Kapitel 23 - In dem sich Unterschiede zeigen und die Hände wichtig werden

Mit jedem gleichzeitigen Tritt kamen sie tiefer. Nachdem die Mädchen hinunter geklettert waren, kamen die Jungs gleichzeitig zu dritt hinterher. Die Leitern reichten weit, bis hinunter in ein kleines Paradies am Boden der Felsspalte. Dort unten floss ein Bach, von irgendwoher nach irgendwohin. Endlich Wasser, um ihren Durst zu löschen! Sein Wasser ließ Büsche, Bäume und Gräser wachsen. Sie fanden sogar Früchte. Weder Simon noch Hannes hatten je solche gesehen. Dafür konnten ihnen Noushin, Sunitha und Song welche zeigen, die essbar waren. Sie pflückten genug, um sich satt zu futtern. Die Stimmung war schlagartig viel besser. Sie alberten herum, erzählten sich ihre Gedanken, aßen, ruhten sich aus und ließen die Füße im Wasser baumeln.

Ein kurzes Stück den Bach hinab plätscherte es laut. Dort schoss der Bach über dicke, ausgewaschene Steine einen guten Meter in einen kleinen, runden und tiefen See hinab. Als Hannes das entdeckte, war er nicht mehr zu halten. Noch im Rennen riss er sich die Hose herunter, kickte seine Schuhe wild nach links und rechts und sprang. Alle waren verdutzt, sie sahen nur noch seinen nackten Po und hörten das laute Platschen, als er im Wasser landete.

“Kommt rein, das Wasser ist herrlich!”, tönte es von unten.
Die Anderen sahen sich an. Noushin hatte riesige Lust, zu schwimmen und Simon sah auch danach aus, als würde er liebend gern ins Wasser springen. Aber einfach so? Badesachen und Handtuch hatten sie nicht dabei. Auf der anderen Seite, dachte Simon zögerlich, steht da oben wohl immer noch ein total nackter alter Mann am anderen Rand der Spalte. Als erste hatte sich Noushin entschlossen. Sie huschte an einem kleinen Busch vorbei, schlüpfte dabei aus ihrem losen Kleid und sprang ebenfalls ins Wasser, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Als Song das sah, machte er es genau so. Nur Sunitha und Simon wussten nicht so recht, was sie tun sollten. Langsam liefen sie um den kleinen Wasserfall herum, setzten sich ans Ufer und ließen die Beine baumeln.
“Sunitha, magst du schwimmen?” fragte Simon nach ein paar Minuten Schweigen.

“Ich..., ähm,... ich kann nicht schwimmen”, antwortete Sunitha stockend.
“Echt?! Warum das denn?”, war Simon erstaunt.
“Meine Familie hat auf dem Land gelebt. Es gab bei uns keine Schwimmbäder und auch keine Seen, wie hier. Schwimmen lernen ist da nicht möglich”, erklärte Sunitha.
“Und als ich nach Deutschland kam, war erst mal alles andere wichtiger. Für einen Schwimmkurs hatte meine Mutter einfach keine Zeit. Und auch kein Geld”, seufzte Sunitha.
“Deswegen weiß ich gar nicht, ob mir das Spaß machen würde.”
“Oh...”, sagte Simon und schwieg.

...

Die drei Wasserratten hatten irgendwann genug vom Schwimmen, Spritzen und Rumalbern. Nachdem Simon zum Aufbruch mahnte, merkten sie, dass sie wohl erst mal nach ihren achtlos weggeworfenen Kleidern suchen mussten. Es war so warm, dass sie schnell trockneten und in die Kleider schlüpfen konnten.

Auf der anderen Seite der Felsspalte fanden sie zum Glück eine grob in den Fels gehauene Treppe. Während sie langsam nach oben stiegen, meinte Simon: “Wir brauchen jetzt endlich ein paar Hinweise. Ich glaub’, auf dem Felsen da oben könnten wir wieder was finden. Das war bisher in jedem Traum so.”
“Daneben steht doch dieser nackte Opa”, rief Song.
“Der ist bestimmt nicht ganz dicht. Wer stellt sich schon nackt in die Wüste? Und dann noch auf einem Bein! Und diese komischen Farben auf seinem Bauch”, entrüstete sich Simon.

“Aber Simon, das ist doch kein Grund”, gab Sunitha zu bedenken. “Nur weil der alte Mann anders aussieht und Sachen macht, die wir nicht verstehen, brauchst du nicht über ihn lästern. Wir sehen alle irgendwie anders aus, hast du doch vorhin gesehen.”

“Stimmt”, pflichtete Noushin bei. “Simon ist total blass, Sunitha hat dunkle Haut. Song hat einen Penis und ich nicht. Dafür habe ich viel längere Haare. Hannes hat voll die Muskeln an den Armen und Sunitha nicht. Dafür hat sie lauter schwarze Härchen auf den Armen. Das ist doch eigentlich egal. Wir sind alle speziell und trotzdem halten wir zusammen. Aussehen ist doch Nebensache. Wichtig ist, was du bist, was du tust!”
Hannes sah sie bewundernd an. Noushin hatte recht und es genau auf den Punkt gebracht.

“Respekt ist unsere Aufgabe”, sagte er und grinste.
“...und nicht 'ne falsche Maske, die ich aufhabe”, setzte Song nach. Sie klatschten sich ab und blickten triumphierend in die Runde. Die anderen sahen sie verständnislos an.
“Kennt ihr das nicht?”, fragte Hannes verwundert. “Ist aus dem Rap-Song.”
“Ich mag lieber Hardrock...”, murmelte Simon.

“Siehste!”, wandte sich Sunitha an ihn. “Wir sind alle verschieden.”
“Und der alte Mann ist wahrscheinlich der Boss hier”, sagte Hannes plötzlich. “Ich habe nachgedacht. Ich habe ein Bild von einem ähnlichen Mann schon mal gesehen. Es zeigte einen Häuptling der Aborigines. Die leben in Australien.”

...

Als sie endlich oben ankamen, war nur der große Felsblock zu sehen. Erleichtert liefen sie hinüber und begannen, seine Oberfläche zu untersuchen. Tatsächlich fanden sich viele Kerben, die mit schwarzer Farbe ausgemalt waren. Eine flache Seite des Felsblocks war reich verziert und enthielt einige Zeichen, die Noushin und Sunitha erkannten. Allerdings auch einige, die niemand von ihnen irgendwie deuten konnte.

“Schau mal, die hier sehen aus wie die Hieroglyphen, die man aus den Filmen über Ägypten kennt”, deutete Simon auf eine Gruppe von Zeichen weiter oben. “Sieht so aus, als hätte das Buch das Rätsel in ganz vielen Sprachen versteckt.”

“Weg, Kreis, Viele, Hand, steht hier in Sanskrit”, sagte Sunitha und deutete auf ein paar Zeichen. “Das drum herum ist ein altes Gedicht, das ich von einem Lied her kenne.”
“In Farsi les’ ich Weiser, Scheibe, Freunde, Hand”, meldete sich Noushin von weiter links. “Bisschen ähnlich, oder?”, meinte sie skeptisch. Sie rätselten weiter.

Plötzlich fuhr Song herum. “He!”, rief er erschrocken aus.
Wie aus dem Nichts stand ein Stück hinter den Kindern der nackte, alte Mann mit der dunklen Haut, dem weißen lockigen Bart und den Bemalungen. Er stand auf einem Bein und sah die Kinder entspannt an. Er grinste und sagte kein Wort. Als sich alle herumgedreht und ihn eine Weile gemustert hatten, setzte er sein zweites Bein auf den Boden, breitete die Arme aus, nickte der Gruppe zu, drehte sich um und lief langsam weg.

“Äh...”, sagte Sunitha.
“Ich würd mal sagen, er will, dass wir ihm folgen”, meinte Simon. Unschlüssig setzten sie sich in Bewegung.

...

Sie erreichten den einzelnen, seltsamen, hohen Berg. Er war wirklich sehr groß. Wie ein riesiger Kieselstein, der in den Sand gefallen war und nun nur noch halb herausschaute. Je näher sie kamen, desto klarer war eine schmale hohe Spalte im Fels zu erkennen. Es war ein gigantischer Riss, der bis auf den Boden herab reichte. Ihr Führer, der alte, nackte Mann schien sich hier gut auszukennen. Er schlüpfte mühelos durch die enge Spalte. Als die Kinder ihm folgten, beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Links und rechts konnten sie den blanken Fels fast schon berühren, der steil in die Höhe ragte. Trotzdem war es in der Spalte durch das Nachmittagslicht noch ein bisschen hell. Gedämpftes orangefarbenes Licht schien durch die Spalte.

Simon lief als erster und Hannes war der letzte. Als sie schon fast eine Viertelstunde durch die Spalte gegangen waren, hörte Hannes Simon vorne ein überraschtes “Wow!” rufen. Die Spalte öffnete sich zu einem großen kreisrunden Platz hin, fast so groß, wie ihre Sporthalle, wenn sie rund gewesen wäre. In der Mitte lag eine kreideweiße, große, runde Steinplatte mit dunklen Linien am Boden. Sie alle liefen eilig dort hin. Der alte Mann war verschwunden, so wie er auch gekommen war. Nur die Steinplatte konnte ihnen jetzt noch helfen.

“Ein Labyrinth!”, rief Song anerkennend. “Sieht echt kompliziert aus.”
“Schaut, hier sind wir in der Mitte. Davon gehen 4 Linien ab. Und hier außen an den Enden ist jeweils eine Hand”, bemerkte Noushin.

“Und diese Zeichen... Wer von euch kann sie lesen?”, fragte Hannes und deutete auf ein paar Zeichen, die auf dem Labyrinth verteilt waren.
“Sanskrit”, sagte Sunitha nach kurzer Überlegung.
“Das hier heißt zum Beispiel ‘hoch’ ”, deutete sie auf eines der Zeichen auf der rechten Seite.

“Meint ihr, das hat was mit den Höhlen da zu tun?”, fragte Song von etwas weiter weg und zeigte auf eine dunkle Stelle an der Felswand, die den kreisrunden Platz umgab.
“Da drüben hat es auch noch eine. Und da.”
“Hier ist auch noch eine”, schrie Simon von der anderen Seite.

“Sunitha, Noushin, kommt mal her ihr Sprachgenies. Hier ist wieder eine Inschrift”, rief Hannes von der Schattenseite des Platzes her. Er stand vor einem eckigen Steinquader. Alle knieten sich daneben hin.
“Gleichtzeitig
Vier Hände
Am Ende
Energie bringt die Wende
Die Angst überwinden
Den Stein werdet ihr finden”, übersetzte Noushin. Alle schauten sich fragend an. Was sollte das heißen?

“Wenn ich mir das Labyrinth so ansehe, die Höhlen an den vier Seiten und dann noch das Gedicht... Leute, ich hab den blöden Verdacht, wir müssen alle in eine von den Höhlen”, sagte Hannes.
“Jeder Labyrinth-Weg auf der Steinplatte führt außen zu einer Hand. Und wenn das ‘gleichzeitig’ so wichtig ist...” Er brach ab und schaute missmutig in die Runde.

Song schaute in einen der dunklen Höhleneingänge und bei dem Gedanken, dass er da alleine rein sollte, schauderte es ihn.
“Ohweh...”

“Wer traut sich?”, fragte Song, als sie sich an dem finsteren Eingang versammelt hatten. Simon spähte hinein und wagte ein paar Schritte mit erhobenen Händen, um sich nicht an der Höhlendecke zu stoßen.
“Ist echt verdammt finster hier drin”, kam seine Stimme klar und deutlich aus dem Gang. Er selbst war schon nicht mehr zu sehen.
“Ich würd’ sagen, es geht, man kommt vorwärts. Allerdings nur langsam. Hab’ immer Angst, mir den Kopf anzuhauen. Nehmt besser die Hände vors Gesicht und tastet mit den Füssen”, kam es deutlich aus ein paar schmalen Schlitzen in der Felswand neben und über Simons Eingang.

“Oh, wow!”, hörten alle gebannt einen verblüfften Simon.
“Hier glimmt ein Zeichen! Keine Ahnung, was das bedeutet. Sagt euch das was: ein Strich aufwärts, oben drauf ein Kreis, daraus zwei kurze Striche nach der Seite. So in etwa.”

Sunitha, Song und Noushin rannten zur runden Steinplatte.
“Ja, hier auf dem Labyrinthplan ist oben rechts so was in der Art”, rief Sunitha laut. “Kannst du mich hören, Simon?”
“Laut und deutlich, ist echt erstaunlich. Und was bedeutet das Zeichen?”
“Loch!”, rief Sunitha sorgenvoll.
“Uff,” sagte Simon noch, dann war Stille.

Gebannt schauten alle zu Simons Höhleneingang.
“Simon?”, fragte Song nach kurzer Pause ängstlich. “Bist du noch da?”
“Ja, ich hab nur den Boden abgetastet und da ist tatsächlich ein großes Loch. Konnte aber drüber krabbeln.”
Erleichterte Seufzer machten die Runde.

“Leute, wir brauchen unsere Hände nachher gleichzeitig”, mahnte Hannes. “Was meinst du damit?” fragte ihn Simon. Nun regte sich auch Sunitha: “Das Gedicht auf dem Steinquader sagt was von ‘Gleichzeitig, vier Hände, am Ende’ und dass das dann die Wende bringt.”

Simon und Song schauten zweifelnd.
“Los doch! Jeder in eine Höhle. Ich nehme die hier”, motivierte Noushin ihre Freunde.
“Sunitha, du bleibst am besten hier”, schloss sich Hannes an.
“Nur du kannst die Zeichen entziffern, falls wir welche sehen, und uns mit Übersetzungen weiterhelfen. Wir rufen dann laut.”

Song hatte am meisten Schiss. Er hasste Dunkelheit. Er hatte zuhause oft Alpträume. Aber weil alle anderen in ihren Gängen verschwanden und ihn Sunitha flehentlich ansah, ging er zögerlich in den letzten Eingang. Mit wild klopfendem Herzen und feuchten Händen.

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