Kapitel 01 - In dem ein Buch versteckt und viel Staub aufgewirbelt wird

Vorne raus rannte Lukas, dahinter rannte Luisa und dann kam gleich Simon. Alle hatten wild tanzende Schulranzen auf dem Rücken und Lukas schrie: "Hab dein Buch, ätsche, und du wirst es nicht mehr zurück bekommen!" Luisa schrie nicht, denn sie brauchte all ihren Atem, um hinter Lukas her zu kommen. Er war fast ein Jahr älter als sie, 13, und um einiges kräftiger. Ausserdem war er im Handball. Hannes sagte, dass man beim Handball starke Jungs braucht, die auch mal zulangen können. Simon war dicht hinter ihr.
"Renn’, Luisa, wir brauchen das Buch!" Simon war ihr bester Freund. Es ist zwar eher ungewöhnlich, dass man in der 6. Klasse einen Jungen zum besten Freund hat, aber Simon und sie passten einfach super zusammen. Und er war gar nicht so ein typischer Junge, auf jeden Fall tausend Mal besser als Lukas.

Lukas sprang über die Absperrung am Schulparkplatz und flitzte die alte Strasse hoch zum Wald. Keine Ahnung, wo der hin will, dachte Luisa, aber nichts wie hinterher. Ihr Atem flog und es brannte in den Lungen, weil sie noch nie so lange so schnell gerannt war. Aber sie wollte Lukas unbedingt einholen. Wenn sie das Buch nicht mehr bekam, würde ihr der Klassenlehrer nie wieder ein Buch aus dem speziellen Fundus ausleihen. Dabei hatte sie sich so gefreut als sie ein ‘spezielles’ Buch mit weiterführenden Übungen bekommen hatte, weil sie in Mathe schon mit den normalen Aufgaben fertig geworden war. Es gab nur noch einen Mitschüler, der ein anderes spezielles Buch bekommen hatte: Hannes. Er war ein ganz spezieller Schlaukopf, der immer alles ganz anders erklären konnte als die anderen. Und als der Klassenlehrer. Er hatte ein Buch über Philosophie bekommen und sie, Luisa, eben eins über Mathe.

Simon war inzwischen gleichauf. Sie rannten beide nebeneinander und ihre Ranzen knallten gegeneinander, als Simon blitzartig aus dem Träger schlüpfte und den Ranzen einfach fallen liess. Plötzlich war er schneller. Wie ein Pfeil schoss er um die nächste Strassenecke hinter der sie Lukas kurz zuvor abbiegen gesehen hatten.
"Er will zum verfallenen Haus!", schrie er atemlos und schon gab er wieder volle Kraft.

Als Luisa am Gartentor ankam, stand Simon schon vor der Türe, wie angewurzelt. Lukas war nicht mehr zu sehen.
"Wo ist er hin?", prustete Luisa und hielt sich die schmerzende Seite. Seitenstechen, autsch, so ein Mist.

"Schau mal, Luisa, die Türe...", sagte Simon nachdenklich. Und tatsächlich: die Türe des verfallenen Hauses stand halb offen. Luisa hatte das noch nie so gesehen, denn erstens war niemand von der 6. Klasse gerne in der Nähe des verfallenen Hauses, zum zweiten war das Haus gar nicht so gut zu sehen von der Strasse aus, denn die Hecken wuchsen schon seit Jahren einfach so höher und höher.

"Ist er da rein oder warum stehst du hier wie festgenagelt?", fragte Luisa, als sie wieder normal atmen konnte.
"Ja", sagte Simon tonlos, "hab ihn reinwitschen sehen." Ihr rutschte das Herz in die Hose. Wenn Lukas da rein war, dann hiess das nichts Gutes. Sie schauten sich an und Luisa war sofort klar, dass Simon auch überhaupt keine Lust hatte, durch diese Türe in dieses Haus zu gehen.

Die beiden alten Leute, die in dem Haus gewohnt hatten, waren schon lange tot. Als kleines Kind hatte sie den Mann immer mal wieder sehr langsam und vorsichtig gehend auf dem Markt gesehen. Meist machten die Menschen einen Bogen um ihn, weil er aussah, als würde er einfach umfallen, wenn man ihn anstiess. Er war klein, uralt und runzelig, hatte aber immer ein kleines Lächeln um die Mundwinkel. Seine langen weissen Haare waren voll und buschig, was ihn wie einen Zauberzwerg aussehen liess. Aber die ganz normalen Alte-Leute-Kleider machten ihn wieder normal. Kein Umhang, kein Samtgewand, keine Sterne auf dem Mantel. Nur eine graubraune Strickweste mit Taschen, eine Hose aus dickem Stoff mit Flicken an den Knien und ein weiches Hemd mit Muster. Hannes hatte gesagt, dass das Tweed wäre, ein Stoff aus Schottland und dass der Mann bestimmt früher wo anders gelebt hatte. Niemand hatte es geglaubt, aber es wollte auch niemand mit ihm diskutieren, sonst hätte man leicht eine halbe oder ganze Stunde verlieren können.

"Müssen wir da rein?", fragte Simon mit belegter Stimme. Luisa schluckte.

In dem Augenblick sahen sie Lukas, der sich durch die Türe drückte. Er sah sie grinsend an und rief: "Ha! Wenn ihr euer Scheiss-Streber-Buch wieder haben wollt, müsst ihr da rein. Aber das traut ihr euch ja doch nicht, weil, da spukt es nämlich drin." Lachend zog er ab und drehte sich nur noch einmal kurz um, nachdem er durch ein Loch im Gartenzaun an der Seite zurück auf die Strasse geschlüpft war.
"Sucht nur, ihr Feiglinge!"

Da standen sie. Keiner rührte sich. Es war zwar nicht so richtig kalt, aber langsam bekam Luisa klamme Finger.

Dann dachte sie an ihre Oma und den tiefen Keller dort im Haus und dass sie auch immer Angst gehabt hatte, wenn sie Getränke holen sollte. Eines Tages hatte die Oma ihr alles genau gezeigt, Licht im Keller gemacht, jede Ecke hatten sie genau untersucht. Es gab Kisten, Regale, Kanister, Flaschen mit unleserlichen Etiketten, ein bisschen Schimmel, eine kleine Spinne, ganz viel Dreck und Mauersteine in rostrot. Alles hatten sie angeschaut und Luisa durfte mit dem Handy von Oma die Stellen fotografieren, vor denen sie besonders viel Angst hatte. Oma hatte ihr gesagt "Luisa, am meisten haben wir Menschen Angst vor dem Unbekannten. Alles, was du kennst, verliert seinen Schrecken. Schau dir die Sachen genau an, dann machen sie dir keine Angst mehr." Und so war es gewesen. Kein Problem mehr, wenn sie in den Keller ging. Manchmal begrüsste sie sogar eine Spinne, wenn sie eine Spinnwebe in den Ecken sah.

Sie schüttelte sich kurz und lief dann einfach los, kletterte über das niedrige Gartentor und lief den Weg zur grossen schwarzen Eingangstüre hoch. Der Spalt war breit genug. Sie musste sich nicht mal anstrengen, um hinein zu kommen. Dunkelheit umgab sie.

Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie Simon hinter sich gehört hatte, sah sie sich um. Überall standen Sachen rum. Alles war so voll, dass man sich kaum bewegen konnte, alles sah uralt aus.
"Wie sollen wir bei dem Durcheinander das Buch überhaupt finden?", fragte Simon hinter ihr zweifelnd. Und Luisa musste ihm Recht geben. Hier war nichts zu machen.

Ein kleiner Sonnenstrahl fiel durch eines der winzigen Fenster in einem langen Flur zwischen der Eingangshalle und irgendwelchen Türen ganz hinten. Und in diesem Sonnenstrahl tanzten unzählige Fussel und Staubkörner, das konnte man sogar von hier aus sehen. Luisa schaute gelähmt in dieses Licht und dachte an das versteckte Buch, das sie nun nicht mehr finden würden. Sie müsste es zerknirscht ihrem Klassenlehrer gestehen und ihre Mutter würde das Buch wohl bezahlen müssen. Bestimmt würde der Lehrer sie von der Liste streichen, zu unzuverlässig für ein Spezial-Buch.

Simon stupste sie an. Als sie sich ihm zuwandte, grinste er verschmitzt.
"Luisa, schau dich mal um. Was siehst du hier im Überfluss?" Hm...
"Krimskrams vielleicht?" gab sie verwundert zurück.
"Ja, das auch," winkte Simon ab, "aber das ist nicht der Punkt. Schau doch mal genau hin... Staub!"

Tatsächlich war alles ziemlich verstaubt. Man hatte es zwar nicht gleich gesehen, als sie frisch hereingekommen waren und sich umgeschaut hatten. Aber je mehr sich die Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, desto mehr fiel es auf: alles war verstaubt.
"Hm... aber... was bringt uns das? Willst du hier ‘nen Staubsaug-Wettbewerb gewinnen?" Simon ging in die Knie.
"Gib mir mal deine kleine Lampe." Er streckte die Hand aus und sah dabei auf den Boden. Klar, sie hatte ja immer noch den Ranzen auf und unten bei der Notfall-Ausrüstung, die sie immer dabei hatte, steckte ihre kleine LED-Taschenlampe, die sie mal von Papa geschenkt bekommen hatte.

"Schau..." Simon leuchtete mit der Lampe ganz flach über den Boden. Leicht nur, aber doch merklich, hoben sich ihre Fusspuren vom restlichen unaufgewirbelten Staub ab. Sie schaute sich um. Wenn man ihre Fusspuren entdecken würde... oh weh!

Aber dann machte es Klick!

"Na klar, Simon, du bist genial. Wenn wir unsere Spuren mit der Lampe sehen können, können wir auch die Spuren von Lukas sehen!" Und da waren sie: von der Eingangshalle führten sie den Gang entlang und ganz hinten rechts um die Ecke. Langsam und sehr vorsichtig, um nicht mehr Staub aufzuwirbeln und die Spur zu verlieren, tapsten sie beide mit der Lampe am Boden hinter den Staub-Tappern her. Nach einigen Metern und einer weiteren Ecke führte die Spur in ein großes Zimmer mit nur halb zugezogenen Vorhängen. An den Wänden standen Regale voller Bücher. Hunderte. Ach was, Tausende!

"Er hat unser Buch einfach in ein Bücherregal gestellt, Luisa! Schau, da drüben dreht sich die Spur um und... guck! Da steht es. Lukas ist so ein Trottel,“ freute sich Simon. Er zog das Buch heraus und drehte sich nach Luisa um. Dann erschrak er, denn Luisa stand wie angewurzelt im dunkelsten Teil der Bibliothek und starrte unbeweglich auf die Regale. Auch als Simon näher kam, sah er nicht, was Luisa so fesselte. Er stellte sich direkt hinter sie und tippte sie an. Er konnte spüren wie angespannt sie war.
"Was ist nur mit Luisa los?", fragte er sich verwundert.
„Lass uns hier schleunigst verschwinden“, raunte er ihr zu. Sie drehte sich zu ihm um und er konnte ihre vor Aufregung geweiteten Augen sehen.
„Siehst du es auch?“ fragte sie Simon tonlos und deutete auf das Regal vor ihnen.

Das Herz schlug ihnen bis zum Hals.

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Dieses Kapitel wurde von Magnus geschrieben und am Freitag, 01. Dezember 2023, 01:24 Uhr veröffentlicht. Es enthält 1591 Worte.

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