Luisa schlug ihre Augen wieder auf und wusste zunächst gar nicht, wo sie war. Ganz wie nach einem nächtlichen Traum, wenn man nicht weiß, ob man zurück in der Wirklichkeit ist oder immer noch schläft und weiter träumt.
Um sie herum war es dunkel, ohne dass es sich bedrohlich anfühlte. Sie versuchte, sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen. Sie befand sich im Freien. Der Blick nach oben zeigte einen sternenklaren Himmel. Komischerweise hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie konnte aber niemanden entdecken. Plötzlich bemerkte sie ein leichtes Schimmern ein paar Meter neben ihr auf dem Boden. Es war das mysteriöse Buch.
Das Buch lag aufgeschlagen neben ihr und das Leuchten auf dem Buchrücken war gedämpft. Das seltsame war, dass es so schien, als würde ihre unmittelbare Umgebung ihren Anfang im Buch nehmen. Fast wie eine Sprechblase, die sie aus den Comics kannte, die Simon so gerne las. Nur war die Sprechblase riesig und reichte bis zum Himmel und zu den Sternen. Sie selbst war in dieser riesigen Blase eingeschlossen.
“Komisch”, dachte Luisa und blickte sich weiter um.
“Man könnte meinen, ich bin in der Welt des Buches - innen drin.”
Es musste ein Traum sein. Anders konnte Luisa es sich nicht erklären. Es musste an diesem wunderschönen Sternenhimmel liegen, dass sie trotz allem keine Angst hatte. Nein, sie wollte sich eher weiter umschauen und diese Umgebung erkunden.
Irritierend war ihr Gefühl, nicht allein zu sein, obwohl sie niemanden sehen konnte.
“Hallo, ist da jemand?” rief sie in die Dämmerung hinein.
Stille.
Nein, sie hatte das Gefühl, dass sich die Stille noch verstärkte. So, als hätte jemand auf ihre Worte hin den Atem angehalten.
Einem spontanen Impuls nachgebend, beschloss Luisa, dass dies ein guter Traum war und dass sie ihn nutzen wollte, um mehr über ihr mysteriöses Buch herauszufinden. Wo könnte sie das wohl besser, als im Buch selbst? Was für ein praktischer Zufall, dass sich alles so anfühlte, wie wenn sie gerade genau dort wäre. Verflixt, das klang selbst im Traum ziemlich verrückt. Aber hey, Träume haben keine Regeln. Sie hatte irgendwo mal aufgeschnappt, dass ihr Unterbewusstsein beim Träumen erlebte Dinge verarbeitet. Dann würde sie eben genau dies tun: sie würde jetzt den Traum nutzen, um ihr Erlebnis mit dem seltsamen Buch zu verarbeiten. Wer weiß, vielleicht war sie am Ende schlauer.
Sie beschloss so zu tun, als wäre da jemand in der Dämmerung um sie herum, der sich nicht traute, sich zu zeigen. Immerhin war sie so einfach in seine Welt eingedrungen. Warum ging sie eigentlich gleich von einem “er” aus? Vielleicht weil ihr bester Freund Simon, mit dem sie sonst alles teilte, auch ein Junge war.
Am besten wäre es wohl, sich erst einmal vorzustellen. Warum auch nicht? Es war ihr Traum und keiner würde erfahren, dass sie einem imaginären “Er” ihre verrückten Gedanken erzählen wollte.
“Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber ich bin Luisa”, fing sie an.
“Du wirst nicht glauben, was ich heute erlebt habe.” Und dann erzählte sie in die Dämmerung hinein, was ihr und Simon nach der Schule widerfahren war. Wie sie Lukas nachgejagt waren und zum verlassenen Haus kamen. Während sie vor sich hinplapperte, merkte sie, dass diese unterschwellige Anspannung, die sie vorhin in der Stille gespürt hatte, langsam nachließ. Wie wenn sich ihr unsichtbarer Zuhörer durch ihre Erzählung entspannen würde. Sie sprach also weiter.
Ihre Mutter hatte ihr schon öfter gesagt, dass sie das Zeug hätte, ein spannendes Buch zu schreiben. Sie verstand es anscheinend, ihre Geschichten so zu verpacken, dass man ihr gern zuhörte. Also ließ sie sich von ihrer Intuition leiten und schmückte ihre Erzählung mit etwas mehr Details aus. Traute sich sogar, von ihren seltsamen Gefühlen gegenüber dem mysteriösen Buch zu erzählen. Sie erklärte, dass sie sich irgendwie von dem Buch angezogen fühlte, sie sich aber keinen Reim daraus machen konnte, warum genau.
Am Ende fragte Lusia in die Stille: “Hast du eine Idee was das Ganze soll? Immerhin ist es ja nicht mein Buch, ich sollte es besser zurückbringen in das verlassene Haus. So wie ich es Simon auch versprochen habe.”
Plötzlich merkte sie, dass sich die Stimmung in der Dämmerung änderte. Es kam ihr vor, als würde sich ihr stiller Zuhörer gegen den Gedanken sträuben, dass sie das Buch wieder in das verlassene Haus zurück brachte. Ihrer Intuition folgend fragte sie: “Was hast du denn dagegen? Soll ich das Buch etwa nicht zurückbringen?”
Sie erwartete jeden Moment eine Stimme, die ihr antworten würde. Es fühlte sich wirklich so an, als hörte ihr jemand zu. Als würde ihr dieser Jemand antworten wollen, aber es nicht können. Also schlug sie vor: “Wenn du dich mir nicht zeigen willst und auch nicht mit mir reden kannst... dann lass mich irgendwie anders wissen, was ich deiner Meinung nach mit diesem Buch tun soll: zurückgeben oder nicht?”
Sie kam sich dann doch ziemlich verrückt vor, weil sie eigentlich nur da saß und mehr oder weniger mit sich selbst sprach. Immer noch Stille. Keine Reaktion. Nun gut, vielleicht hatte sie sich einfach getäuscht und es war dann doch niemand da, der ihr zuhören konnte, wer weiss.
“Dann mach's mal gut”, seufzte Luisa.
Ihr Blick wandte sich nochmals nach oben zu dem sternenklaren Himmel. Dieser Himmel hatte es ihr wirklich angetan. Sie hatte das Gefühl, sie müsste ihn sich gut einprägen, bevor sie aus diesem Traum wieder aufwachte. Doch dann schien ihr unsichtbarer Gesprächspartner in der Dämmerung zu spüren, dass sie bereit war, sich zu verabschieden und aus dem Schlaf aufzuwachen. Sie meinte sogar, etwas Gehetztes in der Stille zu bemerken. Wie wenn ihr stiller Zuhörer sie noch eine Weile im Buch behalten wollte.
Während sie sich auf die Spannung konzentrierte, merkte sie, wie sich um sie herum die Stimmung erneut änderte. Ein Stückchen von ihr entfernt begann die Luft zu flimmern. Das dämmrige Licht wurde an dieser Stelle zunehmend heller. Mitten im Licht sah sie sich selbst in einer Vision mit dem Buch in der Hand in ihrem Bett daheim liegen. Es war, als würde sie vor einem Fernseher sitzen und einen Film sehen, bei dem sie selbst mitspielte. Sie sah gebannt zu, wie ihr Ebenbild das mysteriöse Buch aufschlug und wie sich dadurch das Zimmer mit ihrem Bett verwandelte. Ihr Ebenbild war auf einmal nicht mehr in ihrem Zimmer im Bett, sondern unter dem sternenklaren Himmel, der sie so beruhigte und schaute hinauf.
“Schaue ich mir da gerade selbst zu, wie ich in dem Traum angekommen bin?” Luisa kniff ihre Augen ungläubig zusammen und als sie sie wieder aufschlug, war nichts mehr davon zu sehen. Sie war wieder allein in der stillen Dämmerung unter dem sternenklaren Himmel, wie am Anfang. Sie holte tief Luft und fragte in die Leere hinein: “War das deine Art, mir zu zeigen, was das Ganze hier soll? Willst du mir etwa sagen, dass das mysteriöse Buch mich in diesen Traum reingebracht hat? Ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll”, murmelte sie.
Wiederum fing die Luft an, hell zu flimmern. Diesmal sah sie sich in der Vision im Bett liegen und schlafen. Auf ihrem Nachttisch neben der Leselampe lag das Buch, als würde es ihr gehören. Ganz so, als hätte sie es vor dem Schlafengehen dort hingelegt, nachdem sie darin geschmökert hatte. Die Vision verschwamm und sie war wieder allein in ihrer Traumwelt unter dem dämmrigen Sternenhimmel.
Nun meinte sie zu verstehen, was ihr stiller Zuhörer sagen wollte.
“Ich soll also das Buch nicht zum verlassenen Haus zurückbringen, sondern erst einmal behalten?” raunte sie fragend.
Um sie herum herrschte nun friedliche Stille. Die Sterne am Himmel schienen eine Spur heller zu leuchten und einen glücklicheren Eindruck zu machen. Es war, als sei ihr unsichtbarer Gesprächspartner einverstanden mit ihrer Schlussfolgerung. Und die Sterne auch.
Hier kannst du dir den Text vorlesen lassen
Dieses Kapitel wurde von Tania geschrieben und am Samstag, 02. Dezember 2023, 23:53 Uhr veröffentlicht. Es enthält 1294 Worte.
Alle Kapitel bis hier
Du kannst die Geschichte fortsetzen und dein eigenes Kapitel schreiben.
Zuerst schreibst du einen Satz, der als Appetitanreger für ein Weiterlesen unter dem letzten Kapitel angezeigt wird.