Ich vermute mal, heute wird sie kommen. Heute muss sie kommen. Heute ist der richtige Tag, die Vorräte wieder neu zu füllen.
Es ist zum heulen, aber Stoff geht irgendwie gerade nicht so. Entweder hat Stanley den falschen Riecher gehabt und einfach falsche Farben oder Muster gekauft, sich eben mal im Saisontrend vertan. Oder diese Saison ist Stoff einfach nicht so angesagt. Mehr Stangenware oder kommt etwa wieder Selbstgestricktes? Um Himmels Willen.
Ich muss unsere Liquidität prüfen. Wenn wir diese Woche nicht nochmal grosses Glück haben und diese verrückte Designerin kommt, dann wird das eine extrem schlechte Woche. Hätte ich nur nicht auf Stanley gehört. Wie konnten wir so sehr auf Brokat und Tüll setzen? Wir hätten viel gleichmässiger bestellen sollen. Mist.
Ja! Da ist sie! Ich wusste es, sie wird kommen. Oh Jubel, heute kann ich wenigstens ein bisschen was zur Bank bringen.
Jetzt nur nicht stören. Nicht ansprechen. Die Dame will ungestört sein, sie unterhält sich nicht gerne, während sie auswählt. Wahrscheinlich ist sie in Gedanken schon bei der neuen Kollektion.
Diese Weitschweifigkeit, diese Gesten. Wie, wenn sie alleine im Laden wäre. Gut, es kam schon mal vor, dass sich eine andere Kundin beschwerte wenn „La Clarice“ raumgreifend durch den Laden schwebte und sich ihre Proben über den Tischen auszog. „La Clarice“ haben wir sie genannt, als Stanley zum ersten Mal herausgefunden hatte, wohin sie mit ihren Tüten verschwand. Und wie das passt: Madame La Clarice.
Hinterher musste ich oft über eine Stunde Ballen um Ballen und Rolle um Rolle wieder aus dem Haufen sortieren und die Regale zurückstecken. Stanley war die Höflichkeit in Person, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und blieb dezent im Hintergrund. Ich warte üblicherweise an der Kasse, rechne im Kopf schon mal hoch, was ich dieses Mal rausholen kann und hab auch den aktuellen „Rabattsatz“ schon parat. Bitte schön, dann gebe ich die Dame an der Kasse und hier sind deine fünf roten Tüten. Ein bisschen Theater spiele ich doch gerne mit.
Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, dass ich eigentlich die Chefin ihres Lieblingsstoffladens bin. Wahrscheinlich weiss sie auch nicht, dass wir ihren Besuch rot im Kalender markieren. Wahrscheinlich weiss sie im Besonderen nicht, dass wir ihr Atelier kennen und bei jeder ihrer Modenschauen im Publikum sitzen. Schliesslich müssen wir ja für die nächste Saison vorplanen.
Und jetzt rufe ich ihren Mann an und gebe ihm Bescheid.
Dieses Kapitel wurde von Magnus geschrieben und am Sonntag, 29. April 2018, 21:12 Uhr veröffentlicht. Es enthält 401 Worte.
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