Eine Geschichte in 6 Kapiteln

Kapitel 05 - In dem von einem mächtigen Unbekannten erfahren wird

Das Mädchen... Luisa.
Sie geht mir nicht aus dem Kopf. Sie hat mit mir geredet! Wie lang ist es her, dass jemand mit mir geredet hat? Das ist eine angenehme Abwechslung zu der Stille und Einsamkeit meiner langjährigen Gefangenschaft. Dabei hat sie mich nicht einmal gesehen.

Jahrelang bin ich in den Welten des Buches umher gewandert und habe versucht, des Rätsels Lösung zu finden. Wenn es mir gelingt, wäre ich frei!

In den Welten des Buches sollen die Hinweise zur Lösung sein. Inzwischen kenne ich diese Welten in und auswendig und habe gefühlt jeden einzelnen Stein umgedreht. Nichts... rein gar nichts habe ich gefunden, was mich irgendwie weitergebracht hat.

Und dann steht sie auf einmal da. Das Mädchen. Und scheint mich wahrzunehmen. Immerhin hat sie das Buch mitgenommen. In der Nacht darauf habe ich die Gelegenheit ergriffen, als sie mit dem Buch in der Hand eingeschlafen ist. Ich stelle fest, dass ich sie in die Welten des Buches hereinholen kann! Ein Kind. Was will ich denn mit einem Kind in diesem Buch? Aber es gibt ja niemand anderen.

Ich denke nicht gerne zurück an meine eigene Kindheit. Als Vollwaise in den ärmsten Vierteln des Kennara-Slums aufzuwachsen, hinterlässt keine schönen Erinnerungen. Ich war noch weniger Wert als der Abfall, der sich auf den Straßen der Slums häufte. Den konnte man wenigstens teilweise wiederverwenden. Ich dagegen, bin als völlig nutzlos betrachtet worden und wurde auch so behandelt.

Es grenzt schon fast an ein Wunder, dass ich die Zeit des Erwachens überhaupt erreicht habe. So wird die Phase im Leben meines Volkes bezeichnet, in der sich die individuellen Mächte jedes Einzelnen zum ersten Mal zeigen. Während manche eine unnütze Gabe haben, besitzen andere weitaus stärkere und weitreichendere Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten stellen die Basis unserer gesellschaftlichen Rangordnung dar: je größer die Macht, desto höher die Stellung.

Unsere Fähigkeiten werden in der Regel vererbt. Daher kommt es auch so gut wie nie vor, dass aus den niederen Schichten jemand zu den Höchsten aufsteigt. Das Schicksal scheint aber bei mir eine große Ausnahme gemacht zu haben. Denn es stellt sich heraus, dass meine Kräfte zu den beeindruckendsten Fähigkeiten gehören, die unser Volk jemals gesehen hat. Nach jahrelangem Kampf ums nackte Überleben weiss ich diese Kräfte auch richtig einzusetzen. Ich habe darauf geachtet, dass es mir nie wieder schlecht geht. Wieso soll ich mich darum scheren, wem es dabei nicht gut geht? Hat jemals jemand nach mir geschaut? Nein! Sollen sie sich also nicht wundern, warum ich so bin, wie ich bin!

Ich bin nicht zimperlich und scheue nichts, um zum Ziel zu kommen. So manch einer zittert, wenn er meinen Namen hört. Ich werde als böse und skrupellos bezeichnet. Entgegen aller Erwartungen hat mir das Schicksal ungeahnte Macht verliehen. Vielleicht ist es die Gerechtigkeit des Universums. Dafür, dass ich in meiner Jugend so gelitten habe und mißhandelt wurde von mächtigeren Wesen. Jetzt haben sich die Verhältnisse umgedreht. Ich habe die Macht und kriege meinen Willen! Und wenn nicht, wird es schmerzen. Ich scheue nicht davor zurück, dort zuzuschlagen, wo es am meisten weh tut. Denn diese Sprache verstehen alle.

Mir ist nur nicht klar gewesen, dass der willkürliche und skrupellose Einsatz meiner Kräfte mich in dieses Gefängnis führen würde. Der Rat der Weisen ist auf meine Kräfte aufmerksam geworden und hat mich zur Gefangenschaft verurteilt, da sie mich als Bedrohung wahrnehmen. Meine Unerfahrenheit hat mich in die Falle tappen lassen, die man mir gestellt hat. Sollte ich jemals hier herauskommen, wird das nicht noch einmal passieren. Ich habe meine Lektion gelernt.

Und nun ist sie da: meine Chance, zu entkommen. Ich darf nur nichts überstürzen. Darf nicht riskieren, dass dieses Mädchen Angst bekommt und das Buch in das verlassene Haus zurück bringt. Aus diesem Grund habe ich sie das erste Mal unter das Sternenzelt gebracht. Die einzig schöne Erinnerung aus meiner Kindheit. Unter den Weiten des sternenklaren Himmels habe ich es trotz der elenden Situation meiner Kindheit gewagt, zu hoffen, dass ich den nächsten Tag schaffen würde.

Meine Rechnung ist aufgegangen. Das Mädchen mochte mein Sternenzelt. Ich habe mich vorsichtshalber nicht gezeigt und auch nichts von mir hören lassen. Kann nicht riskieren, dass sie, wie meine Zeitgenossen, vor mir zurückschreckt. Nein, ich werde meine Karten geschickt ausspielen und sie dazu einsetzen, aus dieser nun 253-jährigen Gefangenschaft zu entkommen!

Sie soll die Steine für mich finden. Vielleicht hat sie mehr Glück als ich. Vielleicht braucht es einen neuen Ansatz, um die Steine zu entdecken. Seit Jahrzehnten ist jetzt zum ersten Mal wieder etwas Neues möglich.

Ich werde sie lenken und werde ihr helfen. Ich werde ihr zeigen, was ich herausgefunden habe. Ich werde sie in gutem Glauben lassen und hoffen, dass sie die Steine findet.

Dann, wenn sie Erfolg hat, dann, wenn sie die Steine gefunden hat, dann werde ich zuschlagen. Dann werde ich sie ihr nehmen und entfliehen. Dann bin ich frei!

Ich brauche nur einen guten Plan.


“Er schmiedet Pläne”, sagte die kratzige, dunkle Stimme in dem fast ganz dunklen Raum über dem riesigen, kreisrunden Holztisch. Erneut saßen um den Tisch herum die Gestalten in dunkelgrünen Mänteln mit den riesigen Kapuzen. Auch jetzt konnte man nichts von den Gestalten oder ihren Gesichtern sehen.

“Woher wissen wir das?”, fragte die meckernde, hohe Stimme aus einer der Roben. “Haben wir ihn nicht gut genug gebunden? Haben wir ihn nicht mit unseren Welten gebändigt und seine Energie neutralisiert?”

“Er hat lange genug im Buch verbracht. Er weiß nun, dass er etwas anderes versuchen muss. Er wird einen ersten Erfolg haben”, sagte die kleine Stimme erklärend. “Lassen wir ihm diese Freude. Lassen wir ihm die Illusion, dass er sich selbst befreien könnte, würde er nur die Steine der Weisheit finden. Halten wir unsere Falle weiterhin bereit und vor seinen Augen sichtbar, um sicher zu stellen, dass er niemals aus dem Buch entkommen kann. Nicht so lange er ist, wie er ist.”

Die Gestalt mit der besonders grossen Kapuze stand felsenfest und sprach:
“Ein Rätsel um ihn zu binden,
drei Steine, um Gold zu finden.
Die Macht,
wenn er erwacht,
haben wir gedacht.
Sie wird ihn ins Verderben treiben,
denn er wird Seiner treu verbleiben.
Durch unsere Hand.
ist seine Kraft gebannt.
nie wird sein Name genannt.”

Alle Kapuzen nickten langsam und bedächtig.

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