Eine Geschichte in 7 Kapiteln

Kapitel 06 - In dem das Rätsel offenbar und ein Berg bestiegen wird

Luisa und Simon schauten sich ungläubig an.
Sie konnten es nicht fassen. Sie befanden sich zusammen in einer total fremden Umgebung. Die Luft war feucht und kühl, ein fahles Licht drang durch trübe Wolken. Sie standen am Fuße eines gigantischen Berges. Die Spitze des Berges war nebelverhangen und nur zu erahnen. Überhaupt schien dieser Berg unwirklich, so steil, so unbezwingbar.

Simon rieb sich die Augen. Der Berg schien zu schweben.
“Siehst du, was ich sehe, Luisa? Der Berg schwebt. Wie kann das sein?”, fragte er seine beste Freundin.
“Ja! Es muss ein Traum sein! Wir sind wieder in einem Traum, wie ich es gehofft habe. Verstehst du nun, was ich dir erzählen wollte?”, antwortete sie Simon.

Sie waren tatsächlich zusammen in einem Traum. Nach ihrem letzten Traum alleine, war sie nun mit Simon zusammen in einer neuen, mysteriösen Welt. Die einzige, für sie plausible Erklärung war, dass sie in dem Buch steckten, weil sie beide ihre Hand beim Einschlafen auf dem Buch hatten. Es war ganz so wie beim ersten Mal, wo Luisa alleine eingeschlafen war.

“Seltsam”, murmelte Simon und sah sich um.
“Wo sind wir hier nur gelandet und was sollen wir hier?” überlegte Luisa laut. “Das letzte Mal hatte ich irgendwie den Eindruck, dass etwas mit mir reden würde und ich habe das Buch im Traum gesehen. Dieses Mal sind wir einfach nur drin und da ist dieser schwebende Berg”, dachte sie bei sich. Irgendwie lief das diese Nacht anders, als sie sich das vorgestellt hatte. Aber wie lief es überhaupt?

Wie immer ging Simon die Sache ganz praktisch an.
“Lass uns eine Bestandsaufnahme machen, Luisa”, schlug er vor.
“Bestandsaufnahme? Was meinst du damit?” wunderte sich Luisa.
“Ich sehe, dass du deinen Rucksack dabei hast. Schau mal rein, was alles drin ist. Such auch gleich deine Jacken- und Hosentaschen durch. Vielleicht hilft uns da irgendwas, um rauszufinden, warum wir hier sind”, schlug Simon Luisa vor und fing bei seinen Hosentaschen an.

In Luisas Rucksack fanden sie etwas Proviant für unterwegs, sowie 2 Trinkflaschen. Simon fand in seiner Jackentasche ein Stück Landkarte aus dem Heimat- und Sachkundeunterricht. Sie sah aber im Detail ganz anders aus, als die, die er von zuhause kannte. In den Büschen rings herum fanden sie nichts. Aber als sie eine Weile gestöbert hatten, zog sie ein seltsames und bestimmtes Gefühl zu einer kleinen Gruppe Felsen ein Stück bergan. Wie wenn sich Gedanken in ihrem Kopf bilden würden.

“Luisa, was ist das denn?”, rief Simon irritiert. “Kannst du in meinen Kopf was reindenken?” Er drehte sich um und starrte sie suchend an.
“Keine Angst, das was bei mir beim letzten Mal auch so. Ich sah einen Sternenhimmel und die Gedanken waren wie ein Gespräch. Lass es einfach geschehen. Ich glaube nicht, dass es gefährlich ist”, versuchte sie, Simon zu beruhigen. Der war ziemlich aus dem Häuschen und verwirrt.
“Wir sollen zu diesen Felsen. Halt die Augen offen!”, rief Luisa und lief ihren fremden Gedanken hinterher.

“Schau!”, schrie Simon, der an einem großen Felsen etwas entdeckt hatte. Und tatsächlich: unter ein paar Efeuzweigen waren im Felsen seltsame, kleine, regelmässige, schwarze Einkerbungen, die ein Muster bildeten. Umrahmt von einer weiteren Reihe an Symbolen stand in der Mitte des Steins in verschnörkelter Schrift ein Satz:

Finde das unsichtbare, aber dennoch unbezahlbar wertvolle Gut, welches es nicht zu kaufen gibt. Die Steine der Weisheit aus den Welten zeigen den Weg zum Ausgang.

“Oha. Das klingt doch ganz nach einer Aufgabe”, fand Luisa.
“Ausgang...”, murmelte Simon und fasste sich an sein rechtes Ohr. Luisa wusste aus Erfahrung, dass ihr Freund das immer tat, wenn er tief in Gedanken versunken war. Man konnte dann förmlich sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten.
“Hattest du nicht gesagt, dass da in deinem ersten Traum noch jemand anderes war? Vielleicht sucht dieser Jemand den Ausgang aus diesem Buch. Und wir sollen ihm helfen, dieses Rätsel zu lösen”, überlegte Simon. Luisa grinste von einem Ohr zum anderen. Ihr Simon war echt verdammt gut im Kombinieren. Sie war bereit für ein Traumabenteuer. Und sie konnte sich keinen besseren Partner dafür vorstellen, als Simon. Als Simon ihr breites Grinsen und die freudig glitzernden Augen sah, war ihm klar, dass es kein Halten mehr gab. Auch sein Ehrgeiz war geweckt. Sie würden diesem komischen, gesuchten Gut schon auf die Spur kommen. So beschlossen sie, in Richtung des schwebenden Berges zu gehen.


Am Fuß des Berges entdeckten sie eine Herberge. Als sie den Torbogen zur Herberge passierten, fiel ihnen beiden ein Schild hoch oben mit einem Namen auf. “Herz über Verstand” stand dort in einem rötlichen glitzernden Schriftzug. “Was für ein komischer Name!”, fand Simon. Was noch komischer war, waren die zwei andere Gäste der Herberge, die an Ihnen vorbeiliefen und eine fremde Sprache miteinander sprachen. Sie schauten dieses Schild ebenfalls an und schienen es ebenso zu lesen. Gleich darauf schauten sich die beiden Männer auch ähnlich verwundert an, wie Luisa und Simon zuvor. Auch sie wunderten sich über den komischen Namen der Herberge.

Luisa und Simon wechselten einen fragenden Blick. “Simon, wie kommt es, dass die beiden das Schild auch lesen konnten? Sie haben doch eine ganz andere Sprache gesprochen... ist das nicht seltsam? Ich lese da einen deutschen Namen”, wunderte sich Luisa.
Simon zuckte mit den Schultern und meinte: “Keine Ahnung. In deiner Traumwelt scheinen andere Regeln zu gelten. Sieht ganz danach aus, als wäre das Schild für jeden lesbar, völlig egal, was für eine Sprache man selbst spricht.”.

In der Herberge angekommen, nach ihrem ersten Marsch zum schwebenden Berg, erfuhren sie von der Wirtin, dass dies die letzte Station vor dem beschwerlichen Aufstieg zum Gipfel war. Oben auf dem Berg sei die Ruine eines sehr alten Tempels. Dieser Tempel würde wohl von vielen aufgesucht, die auf der Suche nach den Steinen auf den Pfaden der Weisheit unterwegs waren. Bisher sei hier niemand erfolgreich gewesen. Sie erfuhren auch, dass der Aufstieg schwierig war. Etwa alle 3-4 Stunden käme es zu heftigen Regengüssen, die die schmalen und steinigen Wege fast unpassierbar und damit den steilen Aufstieg schier unmöglich machten. Der Aufstieg dauere schon im zügigen Schritt etwa drei Stunden. Man sei gut beraten den Aufstieg so zu planen, dass man oben ankäme, ohne in den Regen zu geraten.

Die Wirtin servierte ihnen einen komisch grünlichen, aber wohlriechenden Eintopf, denn sie hatten beide bemerkt, dass sie doch ziemlich Hunger hatten. Nach den Empfehlungen der Wirtin warteten Lusia und Simon den nächsten Regenguss ab und machten sich dann auf den Weg. Sie legten ein zügiges Tempo vor mit dem Ziel, noch vor dem nächsten Regen oben anzukommen. Nach etwa anderthalb Stunden den Berg hinauf standen ihnen beiden die Schweißperlen auf der Stirn. Es war anstrengend. Sie waren nicht gewohnt, so lange bergauf zu gehen und je höher sie kamen, desto kühler wurde es. Der Nebel machte die Kleider klamm und steif. Die Trinkflaschen waren bereits halb leer und auch die Beine wurden schwer und schwerer. Da zeigte Simon plötzlich nach vorne.

Ein ganzes Stück über ihnen sahen sie zwei Gestalten, die sich mühsam den schmalen Pfad hoch kämpften. Der eine von ihnen stützte sich schwer auf einen Stock und ging gebeugt. Er sah alt und gebrechlich aus und hatte einen zotteligen, dünnen Bart. Der jüngere von beiden zog einen alten, hölzernen Sitzwagen hinter sich her und kam bei dem steilen Aufstieg damit kaum vorwärts. Es sah ganz so aus, als ob der ältere Mann wegen dem unwegsamen Gelände aus dem Sitzwagen ausgestiegen war und nun versuchte, mühsam auf seinen eigenen Beinen hinauf zu kommen, um es dem jüngeren Mann etwas einfacher zu machen. Der zog tapfer den unhandlichen Wagen hinter sich her.

Simon sah, wie Luisa beim Anblick der beiden mitfühlend die Stirn in Falten zog und wusste, dass sie überlegte, den beiden ihre Hilfe anzubieten. Simon packte sie schnell am Handgelenk und nahm sie beiseite.
“Luisa, denk daran... wenn wir unser Tempo nicht beibehalten, werden wir es nicht vor dem nächsten Regen nach oben schaffen.”
Luisa runzelte ihre Stirn und entgegnete: “Ohne Hilfe werden die beiden es ganz sicher nicht schaffen. Schau doch! Der alte Herr sieht aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.”

Während sie da standen und überlegten was sie tun sollten, eilte ein anderer langbeiniger Wanderer zügig an ihnen vorbei. Bisher hatten sie niemanden gesehen. Jetzt waren sie doch ein bisschen erleichtert, dass sie nicht alleine auf den unsicheren Pfaden waren. Schon bald sahen sie den schnellen Wanderer an den zwei wackeligen Gestalten vor ihnen vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Luisa war entrüstet. Diese Rücksichtslosigkeit gab ihr den letzten Ruck.
“Wir riskieren es Simon! Wir müssen ihnen helfen. Sie werden sonst verunglücken.” In diesem Punkt musste Simon ihr Recht geben. Die zwei würden es nicht alleine schaffen und mit dem Wagen war es ohnehin schwer, auf dem rutschigen Pfad zu bleiben und nicht abzustürzen. Gleichzeitig sah er die Gefahr, dass sie auf dem steilen Pfad ohne weiteres zusammen verunglücken könnten. Als er den entschlossenen Zug um Luisas Mund bemerkte, wusste er, dass sie niemals an den beiden vorbeilaufen würde, ohne ihre Hilfe anzubieten. Seine Freundin Luisa hatte ein großes Herz und das liebte er so an ihr. Also: mithelfen! Wenn, dann würden sie es nur gemeinsam schaffen.

Man konnte den beiden Männern die Erleichterung ansehen, als Simon und Luisa ihnen mit wildem gestikulieren ihre Hilfe anboten. Der alte Mann setzte sich wieder zurück in den Sitzwagen und Luisa und Simon halfen dem jungen Mann abwechselnd, den Wagen über die glitschigen Holpersteine den steilen Berg hoch zu ziehen. Trotz vereinter Kräfte kamen sie nur langsam voran und über ihnen brauten sich die angekündigten, dunklen Gewitterwolken drohend zusammen.


Was machen die beiden da?! Sie werden es niemals auf den Gipfel schaffen bevor das Unwetter kommt. Das ist ja zum Haare raufen, so viel Dummheit. Gut, dass ich keine Haare habe.

Meine Erfahrungen in der Welt des schwebenden Berges waren schmerzhaft und zahlreich genug. Warum nur kann man sich seine Chance so verbauen? Sie hätten heil oben ankommen können. Jetzt helfen sie den beiden Trotteln und verlieren wertvolle Zeit. Wie sollen sie den Stein der Weisheit in dieser Welt finden, wenn sie es nicht mal nach oben zum Tempel schaffen?

Ich bin doch schon unzählige Male diesen Berg hoch gestiegen. Jedes Mal bin ich an diesem hoffnungslosen Paar vorbeigekommen. Die zwei haben es noch nie nach oben geschafft! Ich schon. Auch wenn es mir nichts gebracht hat. Kein Stein, nichts.

Irgendwas muss ich übersehen haben. Ich hab keine Hoffnung mehr, dass die zwei Kinder mit ihrem Versuch erfolgreich sein werden. Jede Minute, die sie mit Helfen verlieren, ist vergeudete Zeit! Und wenn sie vom Regen hinuntergespült werden, wer weiß, ob sie mir dann in den anderen Welten noch dienlich sein können?

Dabei hat es so gut angefangen. Dieser Freund von dem Mädchen ist ein cleveres Köpfchen. Ohne Mühe hat er das Rätsel richtig gedeutet. Wenn die beiden eine realistische Chance haben sollen, den Aufstieg zu schaffen, muss ich jetzt eingreifen. So ein Ärger. Doch ich kann es mir nicht leisten, meine Chance auch zu verlieren.
Also.

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