Eine Geschichte in 15 Kapiteln

Kapitel 14 - In dem ein schlafender Drache gefunden wird

“Ja”, meinte Luisa erstaunt, ”ich sehe es auch! Es geht hinter dem Wasserfall weiter rein.”
“Meint ihr, der Trampelpfad, dem wir eben gefolgt sind, wird genutzt, um aus der Höhle rein und raus zu gehen?”, fragte Simon.
“Vielleicht waren da vor uns auch schon Leute auf der Suche?”, überlegte er weiter.

“Ich weiss nicht. Es ist ein ziemlich breiter Trampelpfad. Da müssten dann schon eine ganze Menge Leute in einer Gruppe regelmäßig hier unterwegs sein. Und wir haben keine Seele gesehen, hier in der Gegend in den letzten Stunden”, warf Song ein.

“Jungs, wir sind hier, um den nächsten Stein zu finden. Außer diesem komischen Trampelpfad, der scheinbar hinter den Wasserfall führt, haben wir keinen spannenden Fund gemacht. Wer weiss, vielleicht gibt es ja die Drachenformation dort und wir müssen mutig sein und uns durch den Wasserfall trauen, um dahin zu kommen. So würden doch die Schriftzeichen einen Sinn ergeben, oder?”, motivierte Luisa ihre Freunde.

“Ganz schön ums Eck gedacht, Luisa. Aber wenn wir die Höhle hinter dem Wasserfall nicht erkunden, sind wir hier in einer Sackgasse. Da gebe ich dir recht”, lenkte Song ein.

Simon gab sich einen Ruck.
“Dann lass uns nicht rumtrödeln”, meinte er und führte die Gruppe Richtung Ende des Trampelpfades zum Wasser. Sie beschlossen, barfuß mit hochgekrempelten Hosen durch das seichte Wasser bis zum Höhleneingang zu waten. Luisa fühlte sich wie in einem Film, als sie den Wasserfall durch die schmale Aussparung im rauschenden Wasservorhang passierten. Hinter dem Wasserfall angekommen, staunten sie nicht schlecht. Die Höhle war nicht so mickrig, wie sie von aussen ausgesehen hatte, sondern sie standen in einem ganzen Höhlensystem im Berg! Schnell zogen sich die drei ihre Socken und Schuhe über und beschlossen dann, weiter hineinzugehen.

“Ist das nicht der Hammer!”, staunte Simon.
“Wir brauchen nicht mal ne Taschenlampe!”
“Wie kommt es, dass es hier nicht stockduster ist?”, wunderte sich Song. Luisa schaute nach oben. An der Höhlendecke leuchteten einzelne Steinblöcke und gaben ein dämmriges Licht ab. “Die Höhle scheint mit diesen leuchtenden Steinblöcken fast eine richtige Deckenbeleuchtung zu haben”, murmelte sie.
“Es ist zwar nicht viel Licht, aber es reicht, um sich hier einigermaßen zurecht zu finden”, fand auch Simon. Er hatte die kleine LED-Leuchte an seinem Schlüsselbund schon abgemacht und hielt diese in der Hand für alle Fälle.

Etwa in der gleichen Breite, wie der Trampelpfad draussen, führte auch hier drinnen ein Pfad in das Innere der Höhle. Alle drei fanden es unheimlich, im Halbdunkeln durch diese merkwürdigen Gänge zu laufen. Schließlich mündete der Pfad in einen riesigen Höhlenraum. Es gab Wasser hier drin.
“Das ist ja ein unterirdischer See”, flüsterte Luisa andächtig. Plötzlich wich Simon, der vor ihr gelaufen war, ohne Vorwarnung zwei Schritte zurück und rempelte Luisa an. Sie wäre fast hingefallen, wenn Simon sie nicht am Handgelenk festgehalten hätte. Sie wollte gerade lautstark protestieren, da deutete Simon an, leise zu sein. Dabei hatte er so einen erschrockenen Gesichtsausdruck, dass sie sofort inne hielt. Auch Song fiel es auf. Luisa und Song drehten sich gleichzeitig in die Richtung, in die kurz zuvor Simon geschaut hatte. Erschrocken hielt Song die Luft an, während Luisa genauso erschrocken mit ihrer freien Hand nach Songs Hand griff. Auf der anderen Seite des unterirdischen Sees lag am Ufer ein riesiger, schlafender Drachen.

”Ei-eine Hö-Höhle mit einem echtem Dra-Dra-Drachen!”, stotterte Song leise und sah dabei so aus, als würde ihm jeden Moment schlecht werden.
“Psssst!”, zischte Luisa ihm zu. Sie wollte nicht riskieren den Drachen aufzuwecken. Und sie wollte möglichst rasch raus aus der Höhle.

Ihr Blick wanderte zu Simon. Er stand wie angewurzelt an derselben Stelle wie zuvor. Sie hatte den Eindruck, dass er völlig geschockt war und gar nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. “Mit dem schnellen Abgang aus der Höhle wird es also nichts”, seufzte sie innerlich. Sie konnte nie und nimmer die beiden leise oder ohne Worte aus Ihrer Schockstarre lösen und ihnen klar machen, dass sie sofort hier raus mussten.

Plötzlich gab es ein klirrendes Geräusch aus der Ecke, wo Simon stand und Luisa, Simon und Song erstarrten. Das Herz schlug ihnen bis zum Hals. Simon musste vor lauter Schreck seinen Griff um die LED-Leuchte gelockert haben, so dass diese klirrend auf den Boden gefallen und dabei auch noch zerbrochen war.

Sie schauten gebannt zu dem Drachen. Hatten sie ihn aufgeweckt?


Ich kann nicht glauben, was ich da sehe in der Welt des Wasserfalles...

Ich habe diese Welt für die Kinder ausgesucht, da ich von Simons Idee erfuhr. Er will Song einbeziehen, um die fremden Schriftzeichen zu entziffern. Tja, da sind die Kinder eindeutig im Nachteil. Sie können tatsächlich nur einen Teil der Schriften entziffern und verstehen, da ihnen die anderen alten Sprachen nicht geläufig sind.

Davon abgesehen sind sie gut. Das muss ich ihnen lassen. Was ich erstaunlich finde, ist, wie sie zusammen funktionieren. Der eine denkt das eine und der anderen kommt darauf ein anderer Gedanke. Am Ende sind sie zusammen immer weiter, als ich alleine jemals gekommen bin, obwohl ich jedes Wort des Rätsels und jeden Stein dieser Welten kenne!

Ich kenne den Wasserfall. Mir war aber der Trampelpfad nie aufgefallen. Natürlich bin ich auch nicht darauf gekommen, dass sich hinter dem Wasserfall eine Drachenhöhle verbirgt. Die drei haben es irgendwie geschafft, den Drachen ausfindig zu machen, der im Rätsel erwähnt wird.

Und was für ein Drachen es ist! Die drei sind viel zu panisch, als dass sie sich die Zeit genommen haben den Drachen richtig anzuschauen. Ich habe schon jede Menge über Drachen gehört und schon immer die feuerspeienden, gefährlichen Kämpfer sehr faszinierend gefunden. Sie können auch Luftangriffe starten. Allerdings haben nur wenige jemals die Chance gehabt, einen Drachen dieser Art so aus der der Nähe zu betrachten und zu überleben. Ich lasse meinen Blick gemächlich über den schlafenden Riesen schweifen und nehme jedes Detail auf, während die drei Kinder vor Schreck erstarrt sind.

Der Drache hat seinen mächtigen Kopf mit den zwei nach hinten gebogenen Hörnern auf seinen Vordertatzen zum schlafen abgelegt. Scharfe Zähne ragen unter den Lefzen hervor, die darauf schliessen lassen, dass der Drache ein Fleischfresser ist. Der Hals ist muskulös und lang, so dass er den Kopf mühelos in jede Richtung drehen und wenden kann, um alles und jeden ins Visier zu nehmen. An dem riesigen Körper befinden sich zwei starke Flügel, die es vermögen, den Riesen durch die Lüfte sausen zu lassen. Der Körper geht über in einen langen Schwanz, der mit spitzigen Dornen besetzt ist und in einer rasiermesserscharfen Klinge endet. Die grossen Zähne, die Krallen und dieser Schwanz sind sehr gefährliche Waffen. Ganz zu schweigen von dem Feuer, das er speien kann. Die schuppige Haut des Drachen glänzt trotz des Dämmerlichts in der Höhle und bildet ein undurchdringliches Schild vor sämtlichen Angriffen.

Kein Wunder, dass die Kinder völlig geschockt da stehen. Luisas Instinkte zur Flucht sind vollkommen berechtigt. Sie sind absolut überfordert mit solch einer mächtigen Kraft.

Etwas Ungewohntes regt sich in mir. Es ist ein unangenehmes Gefühl. Aber mir wird klar, dass der Gedanke, dass Luisa, Simon und dieser neue Junge zu Schaden kommen könnten, dieses unangenehme Gefühl verursacht.

Muss wohl daran liegen, dass die Kinder sich bisher gut bewiesen haben und offensichtlich in der Lage sind, mich meiner Freiheit näher zu bringen. Wenn es sein muss, kann ich immer noch eingreifen und die Kinder vor größerem Schaden bewahren. Wenn sie vor lauter traumatischen Erfahrungen und Angst ihre Abenteuerlust verlieren, bringen sie mir nichts.

Ich beschließe, die Situation erst einmal noch aus der Ferne zu betrachten. Denn bisher hat noch keiner in Erfahrung bringen können, wo sich der Stein der Weisheit aus dieser Welt befindet. Der Drachen könnte einen Hinweis haben oder gar der Bewacher sein.

Mit jedem Erlebnis mit den Kindern, dessen Zeuge ich bin, wird mir klarer, dass diese Kinder auf ihre ganz eigene Weise auch nicht zu unterschätzen sind. Vielleicht schaffen sie es trotz des offensichtlichen Ungleichgewichtes zwischen ihnen und dem mächtigen Drachen, doch noch einen Schritt weiter zu kommen, um den Stein zu finden.

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