Eine Geschichte in 22 Kapiteln

Kapitel 21 - In dem ein heisser, trockener Wind weht

Der Kellerschlüssel war bei Simon. Und es wurde kompliziert. Sehr kompliziert.

Er hatte Saskia eine wilde Geschichte aufgetischt, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Saskia war total leicht zu überzeugen. Es schien, als hätte sie sogar großen Spaß daran, dass ihr Hobbykeller zur berüchtigten Partyzentrale der Sechstklässler in der Nachbarschaft wurde. Simon kam es auch ein bisschen so vor, als hätte sie ihn von Anfang an durchschaut. Denn er hatte ein paar Mal bemerkt, dass sich ihr Vorhang im 1. Stock bewegte, als die fremden Kellerübernachter alle angezogen und auf dem Weg zur Schule waren.

Saskia hatte auf Simons Wunsch hin mit ihrer Mitbewohnerin aus dem Obergeschoss gesprochen. Die machte gerade eine Ausbildung zur Physiotherapeutin in der Praxis, in der Hannes wegen seinen Beinen behandelt wurde. So konnten sie seine Therapiestunde auf den Abend verlegen und es würde nicht auffallen, wenn Hannes zu ihr ins Haus gefahren würde. Hannes Eltern hatten daraufhin Merle Bescheid gesagt. Die hatte dann Tarik, den Vater von Noushin angerufen und eine Krankenfahrt bestellt. Noushin hatte sich davor heimlich unter eine Decke auf den Rücksitz des Taxis gequetscht. Schwierig alles. Sehr heimlich, sehr gefährlich. Sie mussten alle irgendwie zu Saskias Keller kommen, aber alle Eltern durften nichts mitbekommen.

Noushin war also im Taxi und musste ungesehen hinausschlüpfen, während ihr Vater nichts ahnend den Rolli und Hannes ausladen würde. Simon würde alle in den Keller schleusen, in dem er schon die Schlafsäcke vorbereitet hatte. Sunitha musste nur noch warten, bis ihre Mutter zur Nachtschicht aufbrach und dann mit der Taschenlampe durch den winzigen Hinterhof an den Mülltonnen vorbei über den Zaun und am Kellereingang bei Saskia klopfen.

Lusia war der Pechvogel. Ihr Vater hatte kein weiteres Auge zugedrückt, nachdem sie nach dem Sternentraum völlig erschlagen und übermüdet bei den Hausaufgaben eingeschlafen war. Sie war untröstlich gewesen und hatte sogar geweint. Sie wollte die anderen nicht im Stich lassen und war traurig, nicht dabei zu sein. Aber Song und Simon hatten ihr versichert, dass sie schon so viel für die Steine getan hatte und dass sie ihr alles haarklein erzählen würden. So hatte Luisa den Jungs das Buch überlassen. Song hatte es bedächtig in seinem Rucksack verstaut und trug es vorsichtig und mit Stolz.

Sie hatten sich kurz nach der Schule getroffen, um die ganzen Pläne zu besprechen. Es musste reibungslos klappen, sie hatten nur noch wenige Gelegenheiten bis zu den Weihnachtsferien. Nachdem Hannes den anderen von Sunitha erzählt hatte, waren zuerst alle begeistert, dass jemand die restlichen Zeichen entziffern konnte. Aber dann wurden die Gesichter lang, als sie feststellten, dass sie Sunitha ja eigentlich gar nicht kannten. Klar, jeder hatte sie schon oft gesehen. Aber mit ihr gesprochen hatte niemand. Und sie war doch sehr zurückhaltend.

Song fragte als erster: “Warum kennt eigentlich niemand von uns Sunitha richtig?”
Simon und Hannes sahen sich ratlos an. Noushin sagte dann: “Wisst ihr, für euch ist das kein Ding. Ihr seid hier geboren und eure Eltern wohnen wahrscheinlich auch schon ewig in der Stadt. Ihr habt keine Ahnung, was das für ein Gefühl ist, wenn man nicht von hier ist. Wenn man vielleicht noch aus einem anderen Land kommt und hier keine Freundinnen hat. Ich konnte am Anfang kein Deutsch. Sunitha vielleicht auch nicht. Außerdem arbeitet ihre Mutter im Krankenhaus und ist oft weg. Einen Vater hat sie auch nicht mehr. Ist doch klar, dass sie sich vorsichtig und zurückhaltend verhält.”

Alle schauten sie an. Song nickte “Für Jungs ist das vielleicht einfacher. Wir kicken auf dem Hof und wenn du mit dem Ball mithalten kannst, bist du schnell dabei. Mir ging es jedenfalls so. Bei Mädchen ist das wohl anders?”

“Ja”, sagte Noushin ernst.
“Es gibt da eine ganze Menge, die ihr euch gar nicht vorstellen könnt.”


Unvorstellbar war auch, was sie trotz der ganzen Planung vergessen hatten. Hannes hatte sein total wichtiges Notizbuch vergessen, in dem er alle Sachen zu den Schriftzeichen gesammelt hatte. Noushin hatte alle Schlafsachen vergessen. Sunitha wusste nicht, dass überhaupt übernachtet werden sollte und wollte sofort wieder umdrehen. Simon hatte eine Schürfwunde, weil er vor Saskias Treppe sein Knie aufgeschlagen hatte und humpelte sogar ein bisschen. Nur Song war ruhig und vorbereitet. Stolz, weil er das Buch trug. Und entspannt, weil er seine Eltern mit einer kleinen Notlüge beruhigt und sich alle Zeit der Welt verschafft hatte. Er sagte, sie würden in der Theater AG für das Weihnachtsspiel proben und es gab eine Schulübernachtung, weil sie das für den Zusammenhalt in der Gruppe brauchten. Da waren seine Eltern sofort dabei, denn ihnen war total wichtig, dass Song mit dazu gehörte.

Simon hatte eine Ausnahme gemacht und war tatsächlich zu Saskia hoch gegangen und hatte sie um Rat gefragt. Seine Kusine versetzte ihn in Erstaunen, in dem sie ihren und den Schlafsack von Max auslieh und für die Mädchen sogar noch Nachthemd und Zahnbürste organisieren konnte. Er hatte stark den Eindruck, dass sie das nicht zum ersten Mal machte. Übernachten Studentinnen öfters woanders? Hm...

Es folgten endlose Diskussionen über die beiden Steine, die Simon dabei hatte. Über die Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass Luisa, Simon und Song sie bekommen hatten. Über die Schriftzeichen, die Noushin gesehen hatte und die Hannes aus ihrer Nachricht in sein Notizbuch übertragen hatte. Über das Gedächtnis von Hannes, der sie ihnen exakt beschreiben konnte. Über das Übernachten in fremden Partykellern. Über das Buch von Luisa, in dem man rein gar nichts lesen konnte, da es voller unbekannter, winziger Schriftzeichen war.

Sunitha war erst sehr still gewesen und taute immer mehr auf. Sobald sie auf die Zeichen in Sanskrit kamen, hörten ihr alle gespannt zu. Das gab ihr Vertrauen. Sie übersetzte die Zeichen und versuchte, ihre Bedeutung zu erklären. Es waren wieder vier Wörter, die aber für die Anderen keinen wirklichen Sinn ergaben. So beschlossen sie, dass sie erst gemeinsam träumen müssten, um mit den Hinweisen etwas anfangen zu können. Dass es ein Buch geben könnte, mit dem man gemeinsam träumt, fand sie erstaunlicherweise nicht ungewöhnlich. Ihr Vater hatte ihr unzählige fantastische Geschichten erzählt, in denen Gottheiten mit verrückten Fähigkeiten eine wichtige Rolle spielten. Warum sollte es dann nicht auch ein Buch des Traumes geben?

Noushin sah auf der Uhr an der Wand, wie spät es schon war und erschrak. Alle machten sich flugs bettfertig, Simon steckte die beiden gesammelten Steine in seine Schlafanzughose. Es war schon spät und sie hatten ja noch viel vor. Noushin half Hannes und Sunitha freute sich über das flauschige Nachthemd. Dann war es soweit.

Song packte das Buch aus und legte es in die Mitte.
“Legt euch bequem hin, so wie ihr normal auch einschlaft. Und ganz wichtig: Legt eine Hand auf das Buch. Das hat uns in den selben Traum geführt”, schärfte ihnen Simon ein. Dann schaltete er das Licht aus.


Endlich legen sie sich schlafen. Wurde auch Zeit.

Der Rat der Alten hat mir tatsächlich meine Kraft genommen! Jetzt bin ich nicht mehr in der Lage, die Reisen der Kinder in die richtigen Welten zu lenken. Dort sollten sie doch jene Hinweise entdecken, die ich über die Jahre auf meinen Reisen durch die Welten des Buches gesammelt habe.

Bisher habe ich mich sogar in den Welten zeigen, sie vorwärts treiben und ihnen helfen können. All dies haben die Alten, die unseren Erfolg sahen, jetzt unterbunden. Warum kann ich mich im Buch nicht mehr frei bewegen?!

Nun bin ich gezwungen, hier zu sitzen und muss tatenlos zuschauen, wie Luisa und ihre Freunde immer wieder versuchen, das Rätsel zu lösen. Wenigstens konnte ich noch Luisa und dem persischen Mädchen die Zeichen im Traum schicken. Diese gewitzten Kinder haben schließlich erkannt, dass es Schriftzeichen sein müssen. Nun haben sie eine Inderin für die Sache gewinnen können. Sie wird es schaffen, den letzten Teil des Rätsels zu übersetzen. So haben sie eine Chance, weiter zu kommen. Sie müssen allerdings die richtige Welt finden.

Es ist komisch.
Mir wird es ganz warm, wenn ich daran denke, dass jemand... nein, dass gleich mehrere Wesen... sich für meine Sache einsetzen, auch wenn sie nicht wissen warum. Es ist ein Glück, dass sie ahnen, dass ich hier gefangen bin. Es ist ein noch größeres Glück, dass sie nicht wissen, wer ich bin, was ich getan habe und warum ich im Gefängnis sitze.

Hm... wann hat sich jemals jemand ohne eigenen Vorteil für mich eingesetzt. NIE! Bis diese Kinder kamen. Und es ist unglaublich, dass sie bereit sind, dafür Risiken einzugehen. Anfangs wollte ich sie ja nur für meine Sache ausnutzen. Sie finden die Steine der Weisheit und ich brauche die Steine nur zu nehmen, um mich aus meinem Gefängnis zu befreien. Doch je mehr ich sie zusammen erlebe und auch selbst einmal Teil ihrer Gruppe gewesen bin, desto mehr machen sie mich nachdenklich.

Es ist schön zu jemandem zu gehören. Es ist schön, wenn man jemanden hat, mit dem man sich austauschen kann. Es ist schön, zu wissen, dass es jemanden gibt, der einen versteht und der einen mag. Genau das sehe ich bei Luisa, Simon und ihren Freunden.
Wie wäre es, wenn ich all dieses auch hätte?

Es gab da einen Moment in der Welt des Wasserfalles, wo Luisa mich trotz meiner verschiedenen Formen als ein und dasselbe Wesen erkannte. Sie hatte keine Angst vor meiner Macht. Auch keine davor, dass ich sie ausnutzen würde.

Sie hat sich in dem Moment ehrlich gefreut, mich in den verschiedenen Welten wiederzufinden. Und das bedeutet mir etwas. Dass sie mich um meinetwillen wahrgenommen hat und sich wegen mir gefreut hat. Ich habe mich verstanden gefühlt, wie bisher noch nie.

Da ist es wieder, dieses warme Gefühl... angenehm, aber gleichzeitig auch ängstlich, dass ich mich verletzlich mache. Warum zweifeln? Das erste Mal in meinem Dasein empfinde ich GEFÜHLE für andere Wesen. Und das ausgerechnet völlig wehrlosen und unbeholfenen Kindern gegenüber. Hätte ich mir nicht besser Wesen ausgesucht, die nicht so verletzlich sind? Aber gerade das ist es: sie sind für mich da, wie es nie zuvor jemand gewesen ist. Und das, obwohl sie keinerlei Macht haben und selbst schutzlos sind. Ich fasse also einen Entschluss: auch ich werde für SIE da sein.


Tatsächlich wurden sie in einen gemeinsamen Traum geführt.

Ein heißer, trockener Wind umfing die Kinder. Am Horizont sahen sie die Sonne aufgehen. Sie lagen auf sandigem Boden, irgendwo auf einer Anhöhe inmitten flachen Landes. Im Dämmerlicht sah man viel Sand, Felsen und in der Ferne erhob sich ein einzelner, seltsamer, hoher Berg. Es war schon bei Sonnenaufgang sehr warm und Song ahnte, dass das ein heißer Tag werden würde. Als er an sich herunter sah, stellte er fest, dass er seine Sommershorts trug. Klasse, dachte er, das Buch denkt mit.

Die anderen waren noch ein bisschen benommen. Song hingegen suchte sofort nach Hinweisen für das Rätsel. Die deutschen Sätze hatten Luisa und Simon für den ersten Stein verwendet. Wasser, Drachen, mutig und schlau hatten beim zweiten Stein geholfen. Übrig waren die Zeichen in Farsi und Sanskrit. Wo konnte man denn in dieser flachen Ebene ohne Pflanzen weitere Hinweise finden?

“Oh Kacke!”, kam es verzweifelt von hinten. Song drehte sich rasch um. Hannes saß auf dem Boden und hatte Tränen in den Augen.
“Es hat keinen Rolli in diesem Traum. Ich kann nicht mitkommen”, murmelte er mit erstickter Stimme. Noushin war sofort bei ihm.
“Wir können dich doch vielleicht tragen. Jetzt komm erst mal hoch.” Song und sie packten Hannes unter den Schultern und hoben ihn an, als plötzlich seine Beine hinunter klappten.
“Au!”, rief er, als seine Zehen auf dem Boden aufschlugen. Dann wurde er bleich wie ein Leintuch.

“Ich spüre meine Zehen…”, sagte er verwundert.
Noushin und Song sahen ihn verblüfft an. Langsam bewegte er seine Zehen, setzte dann den Fuss auf den Boden und stand tatsächlich, schwankend. Er stützte sich bei Song ab und schaute perplex an sich herunter.

“Ich... kann... stehen!” Er machte einen Schritt vorwärts.
“Ich kann laufen!” Er machte noch drei Schritte vorwärts und fing dann immer schneller zu laufen an. Nach einer Runde in schnellem Tempo schrie er freudestrahlend “Meine Beine tun wieder! Meine Beine!”
Er fiel auf die Knie und fing hemmungslos an zu heulen.
“Danke, Danke, liebes Buch!”

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