Eine Geschichte in 14 Kapiteln

Kapitel 13 - In dem schlaflos Zeichen gesendet werden

Noushin konnte nicht schlafen.

Die Leuchtzahlen ihres Weckers zeigten 02:31 und sie lag mindestens schon 6 Minuten wach. Erst hatte sie einen Schreck bekommen, als sie aufgewacht war, weil sie dachte, dass sie verschlafen hätte. Aber dann hörte sie ihre Brüder und Schwestern tief und entspannt atmen. Mohammad schnarchte sogar ein bisschen, weil er wieder diesen blöden Schnupfen hatte.

Dann hatte sie überlegt, warum sie aufgewacht war. Ein Geräusch? Hatte sie ein ungewöhnliches Geräusch gehört? Ihre Schwester konnte in der Nacht noch so laut im Schlaf reden, Noushin hatte sie nie gehört. Aber wenn es ein ungewöhnliches Geräusch gab, eines, das sie vorher noch nie gehört hatte, dann wachte Noushin oft auf. Normalerweise schlief sie aber auch gleich wieder ein. Heute war es anders. Sie hatte ein komisches kribbliges Gefühl. Jetzt waren es schon 9 Minuten.

Irgendetwas ging ihr im Kopf herum. Sie starrte an die Decke, die von ihrem Stockbett aus ganz nah war. Unten schlief ihre Schwester Ayla, im anderen Stockbett neben dem Schrank schliefen Mohammad und Farin. Natürlich hätten sie in der Heimat Zimmer für die Mädchen und die Jungen gehabt, aber hier in Deutschland konnte Papa nicht als Lehrer arbeiten und die Wohnung hatte auch nur 2 Zimmer außer dem Wohn- und Esszimmer. Deswegen konnte sie die Jungs hören hinter dem Vorhang, der quer im Zimmer die Betten vom Lernzimmer trennte. Alles sehr eng. Wenn sie doch nur mal eine grössere Wohnung bekommen könnten.

Sie starrte immer noch an die Decke und musste an Farsi denken, ihre Sprache aus der Heimat. Ihre Tante hatte am Tag wieder mit ihr geübt, alle Zeichen geschrieben, persische Worte herausgesucht und ihr gezeigt, wie man sie in Farsi aufschreibt. Sie hatten in dem grossen, alten Buch gelesen, dass ihre Tante von ihrem Opa geschenkt bekommen hatte. In dem waren lauter Geschichten und Märchen aus dem Orient aufgeschrieben. Sie liebte dieses Buch.

An der Decke sah sie in der Dunkelheit kaum etwas. Grau sah die Tapete aus. Mit einigen dunklen Flecken. Lustig, die Flecken bewegten sich fast ein kleines bisschen. Oder spielte ihr die Nacht einen Streich? Wie Papas Schreibübungen, dachte sie und las: “Wasser, Drache, mutig, schlau, …”. Hä?!

Sie schaute nochmals hin und rieb sich die Augen. Da waren tatsächlich immer noch diese dunklen Flecken an der Decke, die total nach Schriftzeichen in Farsi aussahen und sie las “Wasser, Drache, mutig, schlau, …”, und noch ein paar Zeichen mehr. Sie fasste mit ihrem Arm hoch an die Decke und strich darüber, um zu prüfen, ob dort etwas zu fühlen war. Hatte Mohammad ihr einen Streich gespielt?

Die Zeichen lösten sich auf, so wie sie mit der Hand darüber fuhr. Wie wenn sie Milch im Tee umgerührt hätte. Alles wieder normal dunkelgrau. Seltsam. Sie hatte es aber deutlich lesen können. Jetzt war es weg.

Da sie immer noch nicht schlafen konnte, fasste sie einen waghalsigen Plan. Sie musste unbedingt morgen Hannes von ihrer Entdeckung erzählen und durfte die Zeichen nicht vergessen. Also kletterte sie leise vom Bett und suchte in den vielen herumliegenden Kleidern nach Aylas Handy. Ihre ältere Schwester hatte ein altes Handy von einer Freundin aus der Schule geschenkt bekommen. Ihre Eltern waren reich und ein altes Handy konnte sie einfach verschenken. Mama hatte extra eine weitere Familie gesucht, bei der sie putzen konnte neben ihrer Arbeit an der Uni, damit sie Ayla einen Vertrag und eine SIM-Karte für das Handy bezahlen konnte. Vater hatte geknurrt und missmutig dreingeschaut, als er davon erfuhr. Jetzt hatte Ayla als einzige ausser Papa ein Handy.

Da war’s. Der Akku war auch noch ein bisschen voll. Sie hatte die Zahlenkombination heimlich bei Ayla abgeschaut und sich für Notfälle gemerkt. Sie wusste auch die Handynummer von Hannes und tippte sie nun in Aylas Nachrichtenprogramm ein. Dann zeichnete sie die Zeichen, die sie an der Decke gesehen hatte, mit dem Finger auf dem Bildschirm nach, schickte sie an Hannes und löschte dann die Nachricht sorgfältig aus dem Speicher und aus dem Verlauf. Ayla durfte auf keinen Fall wissen, dass sie ihr Handy öffnen konnte.


Das Handy brummte auf dem Buch, das Hannes auf dem Nachttisch abgelegt hatte, bevor er sich mühsam zum Schlafen umgedreht hatte. Wer konnte das sein? Er war gerade erst auf dem Klo gewesen, eine Aktion, die ihn immer mindestens eine Viertelstunde kostete. Bis er mit dem Rolli im Klo war und wieder zurück, war er meistens so wach, dass er lange nicht einschlafen konnte.

Noushin! Sie hatte ihm ein Bild geschickt mit Zeichen, die er nach drei Mal draufschauen als... hm, wahrscheinlich persische Schriftzeichen identifiziert hatte. Seltsam. Typisch Noushin. Sie hatte ihm schon öfters komplett unverständliche Dinge geschickt und dann am nächsten Tag wilde Geschichten erzählt und ihn zum Lachen gebracht. Sie war eine tolle Erzählerin und hatte immer eine lustige Wendung parat. Letztens hatte sie ihm von den Ungeschicklichkeiten ihres kleinsten Bruders Mohammad erzählt, der gerade in die Vorschule kam, ständig Persisch und Deutsch durcheinander mischte und damit die anderen Kinder vor unlösbare Rätsel stellte.

Was hatte es mit den Zeichen auf sich? Er langte nach seiner Brille, drehte sich um und setzte sich auf. Müde war er zwar immer noch, aber seine Neugierde war stärker. Auf dem Handy versuchte er mit verschiedenen Suchmaschinen und Programmen zum Bilderkennung irgend etwas herauszufinden. Nach 10 Minuten hatte er die ersten vier enträtselt: “Wasser, Flugzeug, mutig, schlau, …”. Er starrte auf die Übersetzungen und verfluchte kurz das Programm. Das konnte doch nicht sein. Das macht doch gar keinen Sinn. Und die anderen hatte er noch nicht mal gefunden. Irgendwie Quatsch.

Er wusste, dass Noushin das Handy ihrer Schwester benutzt hatte. Die Nummer zeigte es und Noushin hatte es ihm auch einmal mit einem verschmitzten Grinsen und Stolz in der Stimme gestanden. Es machte also keinen Sinn, zurück zu schreiben. Im Gegenteil, es würde sogar gewaltigen Ärger verursachen und die geheime Verbindung zwischen ihnen beiden in Gefahr bringen.

Also langte er nach unten zum Kabel neben dem Bett und fand mit den Fingern den Taster. Er drückte rhythmisch auf den Taster und auf dem Fensterbrett blinkte im selben Rhythmus eine starke Lampe zum Fenster hinaus. Mitten in der Nacht um 02:51 würde das Keinen interessieren. Aber wenn Noushin immer noch wach war, dann hätte sie die Morsezeichen mit der Lampe ja aus ihrem Fenster sehen und lesen können: “E r k l a e r s m o r g e n . H .”

Er legte die Brille weg und drehte sich um. Es war Zeit, endlich weiter zu schlafen.

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