Eine Geschichte in 9 Kapiteln
Kiran und das Buch der Wächter

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Willkommen, liebe jungen und alten Liebhaber*innen wilder Geschichten und Abenteuer.

So wie ihr, die ihr hier her gelangt seid, lieben auch wir es, dem Alltag zu fliehen und in neue unbekannte Welten einzutauchen. Deswegen gibt es nun einen Adventskalender der ganz besonderen Art.

Eine Geschichte in 24 Kapiteln.
Jeden Tag ein neues Kapitel, den ganzen Advent hindurch bis zum Finale an Weihnachten. Ihr könnte die Kapitel selbst lesen oder ihr könnt sie euch vorlesen lassen. Entweder von euren Eltern oder von den Familienmitgliedern, die die ganze Geschichte hier gemeinsam geschrieben haben.

Wir erzählen von Luisa.
Von Simon, ihrem besten Freund aus der 6. Klasse.
Von einem geklauten Buch.
Von einem sehr seltsamen Traum.
Von wunderschönen Verzierungen auf einem gigantischen Stein.
Von einem Wald ohne Geräusche.
Von einer Mama und ihrem verzweifelten Kind.
Von einem Gedicht in einer fremden Sprache.
Und von wertvollen und mächtigen Steinen, die erhält, wer ein Abenteuer in diesen Welten besteht.

Lasst euch entführen in diese Geschichte.
Freut euch aufs Lesen, wie wir uns aufs Schreiben gefreut haben.
24 Mal kribbeln im Bauch, wenn eine neue Seite aufgeschlagen und eine neue Welt entdeckt wird.

Viel Spass.

Dieses Kapitel wurde von Magnus geschrieben und am Sonntag, 27. November 2022, 03:07 Uhr veröffentlicht. Es enthält 195 Worte.

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Kapitel 01 - In dem ein Buch versteckt und viel Staub aufgewirbelt wird

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Vorne raus rannte Lukas, dahinter rannte Luisa und dann kam gleich Simon. Alle hatten wild tanzende Schulranzen auf dem Rücken und Lukas schrie: "Hab dein Buch, ätsche, und du wirst es nicht mehr zurück bekommen!". Luisa schrie nicht, denn sie brauchte all ihren Atem, um hinter Lukas her zu kommen. Er war fast ein Jahr älter als sie, 13, und um einiges kräftiger. Ausserdem war er im Handball. Hannes sagte, dass man beim Handball starke Jungs braucht, die auch mal zulangen können. Simon war dicht hinter ihr.
"Renn, Luisa, wir brauchen das Buch!" Simon war ihr bester Freund. Es ist zwar eher ungewöhnlich, dass man in der 6. Klasse einen Jungen zum besten Freund hat, aber Simon und sie passten einfach super zusammen. Und er war gar nicht so ein typischer Junge, auf jeden Fall tausend Mal besser als Lukas.

Lukas sprang über die Absperrung am Schulparkplatz und flitzte die alte Strasse hoch zum Wald. Keine Ahnung, wo der hin will, dachte Luisa, aber nichts wie hinterher. Ihr Atem flog und es brannte in den Lungen, weil sie noch nie so lange so schnell gerannt war. Aber sie wollte Lukas unbedingt einholen. Wenn sie das Buch nicht mehr bekam, würde ihr der Klassenlehrer nie wieder ein Buch aus dem speziellen Fundus ausleihen. Dabei hatte sie sich so gefreut als sie ein "spezielles" Buch mit weiterführenden Übungen bekommen hatte, weil sie in Mathe schon mit den normalen Aufgaben fertig geworden war. Es gab nur noch einen Mitschüler, der ein anderes spezielles Buch bekommen hatte: Hannes. Er war ein ganz spezieller Schlaukopf, der immer alles ganz anders erklären konnte als die anderen. Und als der Klassenlehrer. Er hatte ein Buch über Philosophie bekommen und sie, Luisa, eben eins über Mathe.

Simon war inzwischen gleichauf. Sie rannten beide nebeneinander und ihre Ranzen knallten gegeneinander, als Simon blitzartig aus dem Träger schlüpfte und den Ranzen einfach fallen liess. Plötzlich war er schneller. Wie ein Pfeil schoss er um die nächste Strassenecke hinter der sie Lukas kurz zuvor abbiegen gesehen hatten.
"Er will zum verfallenen Haus!" schrie er atemlos und schon gab er wieder volle Kraft.

Als Luisa am Gartentor ankam, stand Simon schon vor der Türe, wie angewurzelt. Lukas war nicht mehr zu sehen.
"Wo ist er hin?" prustete Luisa und hielt sich die schmerzende Seite. Seitenstechen, autsch, so ein Mist.

"Schau mal, Luisa, die Türe..." sagte Simon nachdenklich. Und tatsächlich: die Türe des verfallenen Hauses stand halb offen. Luisa hatte das noch nie so gesehen, denn erstens war niemand von der 6. Klasse gerne in der Nähe des verfallenen Hauses, zum zweiten war das Haus gar nicht so gut zu sehen von der Strasse aus, denn die Hecken wuchsen schon seit Jahren einfach so höher und höher.

"Ist er da rein oder warum stehst du hier wie festgenagelt?" fragte Luisa, als sie wieder normal atmen konnte.
"Ja", sagte Simon tonlos, "hab ihn reinwitschen sehen." Ihr rutschte das Herz in die Hose. Wenn Lukas da rein war, dann hiess das nichts Gutes. Sie schauten sich an und Luisa war sofort klar, dass Simon auch überhaupt keine Lust hatte, durch diese Türe in dieses Haus zu gehen.

Die beiden alten Leute, die in dem Haus gewohnt hatten, waren schon lange tot. Als kleines Kind hatte sie den Mann immer mal wieder sehr langsam und vorsichtig gehend auf dem Markt gesehen. Meist machten die Menschen einen Bogen um ihn, weil er aussah, als würde er einfach umfallen, wenn man ihn anstiess. Er war klein, uralt und runzelig, hatte aber immer ein kleines Lächeln um die Mundwinkel. Seine langen weissen Haare waren voll und buschig, was ihn wie einen Zauberzwerg aussehen liess. Aber die ganz normalen Alte-Leute-Kleider machten ihn wieder normal. Kein Umhang, kein Samtgewand, keine Sterne auf dem Mantel. Nur eine graubraune Strickweste mit Taschen, eine Hose aus dickem Stoff mit Flicken an den Knien und ein weiches Hemd mit Muster.

Hannes hatte gesagt, dass das Tweed wäre, ein Stoff aus Schottland und dass der Mann bestimmt früher wo anders gelebt hatte. Niemand hatte es geglaubt, aber es wollte auch niemand mit ihm diskutieren, sonst hätte man leicht eine halbe oder ganze Stunde verlieren können.

"Müssen wir da rein?" fragte Simon mit belegter Stimme. Luisa schluckte.

In dem Augenblick sahen sie Lukas, der sich durch die Türe drückte. Er sah sie grinsend an und rief: "Ha! Wenn ihr euer Scheiss-Streber-Buch wieder haben wollt, müsst ihr da rein. Aber das traut ihr euch ja doch nicht, weil, da spukt es nämlich drin." Lachend zog er ab und drehte sich nur noch einmal kurz um, nachdem er durch ein Loch im Gartenzaun an der Seite zurück auf die Strasse geschlüpft war.
"Sucht nur, ihr Feiglinge!"

Da standen sie. Keiner rührte sich. Es war zwar nicht so richtig kalt, aber langsam bekam Luisa klamme Finger.

Dann dachte sie an ihre Oma und den tiefen Keller dort im Haus und dass sie auch immer Angst gehabt hatte, wenn sie Getränke holen sollte. Eines Tages hatte die Oma ihr alles genau gezeigt, Licht im Keller gemacht, jede Ecke hatten sie genau untersucht. Es gab Kisten, Regale, Kanister, Flaschen mit unleserlichen Etiketten, ein bisschen Schimmel, eine kleine Spinne, ganz viel Dreck und Mauersteine in rostrot. Alles hatten sie angeschaut und Luisa durfte mit dem Handy von Oma die Stellen fotografieren, vor denen sie besonders viel Angst hatte.

Oma hatte ihr gesagt: "Luisa, am meisten haben wir Menschen Angst vor dem Unbekannten. Alles, was du kennst, verliert seinen Schrecken. Schau dir die Sachen genau an, dann machen sie dir keine Angst mehr." Und so war es gewesen. Kein Problem mehr, wenn sie in den Keller ging. Manchmal begrüsste sie sogar eine Spinne, wenn sie eine Spinnwebe in den Ecken sah.

Sie schüttelte sich kurz und lief dann einfach los, kletterte über das niedrige Gartentor und lief den Weg zur grossen schwarzen Eingangstüre hoch. Der Spalt war breit genug. Sie musste sich nicht mal anstrengen, um hinein zu kommen. Dunkelheit umgab sie.

Nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie Simon hinter sich gehört hatte, sahen sie sich um. Überall standen Sachen rum. Alles war so voll, dass man sich kaum bewegen konnte, alles sah uralt aus. "Wie sollen wir bei dem Durcheinander das Buch überhaupt finden?" fragte Simon hinter ihr zweifelnd. Und Luisa musste ihm Recht geben. Hier war nichts zu machen.

Ein kleiner Sonnenstrahl fiel durch eines der winzigen Fenster in einem langen Flur zwischen der Eingangshalle und irgendwelchen Türen ganz hinten. Und in diesem Sonnenstrahl tanzten unzählige Fussel und Staubkörner, das konnte man sogar von hier aus sehen. Luisa schaute gelähmt in dieses Licht und dachte an das versteckte Buch, das sie nun nicht mehr finden würden. Sie müsste es zerknirscht ihrem Klassenlehrer gestehen und ihre Mutter würde das Buch wohl bezahlen müssen. Bestimmt würde der Lehrer sie von der Liste streichen, zu unzuverlässig für ein Spezial-Buch.

Simon stupste sie an. Als sie sich ihm zuwandte, grinste er verschmitzt. "Luisa, schau dich mal um. Was siehst du hier im Überfluss?" Hm... "Krimskrams vielleicht?" gab sie zurück. "Ja, das auch," winkte Simon ab, "aber das ist nicht der Punkt. Schau doch mal genau hin... Staub!"

Tatsächlich war alles ziemlich verstaubt. Man hatte es zwar nicht gleich gesehen, als sie frisch hereingekommen waren und sich umgeschaut hatten. Aber je mehr sich die Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, desto mehr fiel es auf: alles war verstaubt.
"Hm... aber... was bringt uns das? Willst du hier nen Staubsaug-Wettbewerb gewinnen?" Simon ging in die Knie.
"Gib mir mal deine kleine Lampe." Er streckte die Hand aus und sah dabei auf den Boden. Klar, sie hatte ja immer noch den Ranzen auf und unten bei der Notfall-Ausrüstung, die sie immer dabei hatte, steckte ihre kleine LED Taschenlampe, die sie mal von Papa geschenkt bekommen hatte.

"Schau..." Simon leuchtete mit der Lampe ganz flach über den Boden. Leicht nur, aber doch merklich, hoben sich ihre Fusspuren vom restlichen unaufgewirbelten Staub ab. Sie schaute sich um. Wenn man ihre Fusspuren entdecken würde... oh weh!

Aber dann machte es Klick!

"Na klar, Simon, du bist genial. Wenn wir unsere Spuren mit der Lampe sehen können, können wir auch die Spuren von Lukas sehen!". Und da waren sie: von der Eingangshalle führten sie den Gang entlang und ganz hinten rechts um die Ecke. Langsam und sehr vorsichtig, um nicht mehr Staub aufzuwirbeln und die Spur zu verlieren, tapsten sie beide mit der Lampe am Boden hinter den Staub-Tappern her.

Nach einigen Metern und einer weiteren Ecke führte die Spur in ein großes Zimmer mit nur halb zugezogenen Vorhängen. An den Wänden standen Regale voller Bücher. Hunderte. Ach was, Tausende!

"Er hat unser Buch einfach in ein Bücherregal gestellt, Luisa! Schau, da drüben dreht sich die Spur um und... guck! Da steht es. Lukas ist so ein Trottel,“ freute sich Simon. Er zog das Buch heraus und drehte sich nach Luisa um. Dann erschrak er, denn Luisa stand wie angewurzelt im dunkelsten Teil der Bibliothek und starrte unbeweglich auf die Regale. Auch als Simon näher kam, sah er nicht, was Luisa so fesselte. Er stellte sich direkt hinter sie und tippte sie an. Er konnte spüren wie angespannt sie war. "Was ist nur mit Luisa los“, fragte er sich verwundert.
"Lass uns hier schleunigst verschwinden“, raunte er ihr zu. Sie drehte sich zu ihm um und er konnte ihre vor Aufregung geweiteten Augen sehen.
"Siehst du es auch?“ fragte sie Simon tonlos und deutete auf das Regal vor ihnen.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Dieses Kapitel wurde von Magnus geschrieben und am Donnerstag, 01. Dezember 2022, 01:38 Uhr veröffentlicht. Es enthält 1591 Worte.

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Kapitel 02 - In dem ein mysteriöses Buch aufgeschlagen wird

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“Das Buch ist in neue Hände gekommen!” sagte eine kratzige dunkle Stimme in einem fast ganz dunklen Raum über einem riesigen, kreisrunden Holztisch. Um den Tisch herum saßen Gestalten in dunkelgrünen Mänteln mit riesigen Kapuzen. Es mussten Mäntel sein oder vielleicht Roben, denn man konnte nichts von den Gestalten erkennen, sogar die Gesichter waren total verdeckt.

“Woher wissen wir das?” fragte eine meckernde hohe Stimme, die aus einer der Roben herausdrang. “Das Buch wurde schon lange nicht mehr weitergegeben, warum ausgerechnet jetzt?” setzte die Stimme nach.

“Der Kristall hat die Farbe verändert. Es ist eine neue Energie spürbar. Wir sind in einer anderen Lage. Es ist unverkennbar.” sagte eine kleine Stimme, ein bisschen zittrig, doch mit großer Sicherheit.

“Dann lasst uns den Rat eröffnen und einen Plan schmieden” donnerte eine der Gestalten mit einer besonders großen Kapuze über den Tisch.


Luisa lag im Bett und starrte ins Dunkel. Im Haus war es still. Auch das Licht im Schlafzimmer ihrer Eltern war erloschen.

Luisa streckte ihren Arm aus und tastete nach dem Schalter ihrer Leselampe. Im Schein des warmen, gemütlichen Lichts setzte sie sich halb auf und schielte zu ihrem Schulranzen, der an seinem üblichen Platz gleich neben ihrem Schreibtisch stand. Normalerweise würde er auch völlig unberührt bleiben an Wochenenden. Sie hatte zig andere Sachen vor am Wochenende und verschwendete keinen Gedanken an die Schule. Außer es stand eine Klassenarbeit an. Dann musste sie doch ein bisschen lernen und üben. Dieses Wochenende war das nicht der Fall. Trotzdem konnte sie ihre Gedanken nicht von ihrem Schulranzen und seinem Inhalt lösen.

Sie musste wieder daran denken, wie sie in dem verlassenen, alten Haus mit Simon vor diesem uralten Regal voller Bücher stand. Simon hatte sie von hinten angetippt und ihr zugeraunt, dass sie schleunigst aus dem doch ziemlich unheimlichen Haus verschwinden sollten. Dank Simons coolem Trick hatten sie das Buch, das Lukas ihnen geklaut und dort versteckt hatte, schnell gefunden. Aber da war dieses Glimmen...

Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren, dieser glimmende Buchrücken hatte sie völlig in seinen Bann gezogen. Ein schwacher Schein war von den Verzierungen des Buchrückens ausgegangen. Es hatte sich deutlich vom Rest abgehoben. Simon zeigte sich völlig unbeeindruckt. Ja, er schien dieses Glimmen gar nicht wahrzunehmen. Sie hatte sich umgedreht und hatte ihn gefragt: “Siehst du es auch?” Er hatte sie daraufhin nur verständnislos angeschaut.

“Was meinst du?”, hatte er sie gefragt.

Sie würde sonst nicht mal im Traum auf den Gedanken kommen, Sachen mitzunehmen, die anderen gehörten, aber irgend etwas an diesem Buch sprach sie an. Auf eine Art und Weise, die sie sonst nicht kannte. Sie konnte nicht anders und musste zu diesem Regal gehen. Kurzerhand beschloss sie, das Buch mitzunehmen, schnappte es sich vom Regal und ließ es in ihren Schulrucksack gleiten. Simon hatte sie ganz verwundert angeschaut. “Ich bringe es die nächsten Tage zurück”, murmelte sie ihm zu. Rasch hatte sie in an der Hand gepackt und mit sich nach draussen gezogen.

...

Jetzt saß sie im Bett und fragte sich, was sie da geritten hatte. Sie hatte Simon gar keine Gelegenheit gegeben, zu fragen, wie sie dazu kam, das Buch einfach mitzunehmen. Sie waren sowieso viel zu spät dran und mussten den Heimweg schnell laufen, denn es hatte angefangen zu nieseln. Natürlich hatten sie beide keinen Regenschirm oder Kapuzen dabei gehabt. An ihrer Haustüre hatten sie sich atemlos verabschiedet und Simon war direkt weiter gerannt, um vor dem nächsten Regen noch zu Hause zu sein.

Luisa schlug ihre Bettdecke auf und kletterte vom Bett. Sie hatte das Buch mitgenommen und bevor sie es am Wochenende zurück bringen würde, wollte sie die Gelegenheit nutzen, das Buch näher anzuschauen. Dann könnte sie Simon auch besser erklären, warum sie das Buch hatte mitgehen lassen. Und dass er sie danach fragen würde, war so sicher, wie das Amen in der Kirche! Sie kannte ihren besten Freund. Er würde nicht locker lassen bis sie ihm eine plausible Erklärung lieferte.

Sie kniete sich vor den Schulranzen und griff nach dem Buch. Sie hatte noch nie zuvor solch ein Buch aus der Nähe gesehen. Es sah alt aus. Alt, nicht gebraucht, sondern eher sorgfältig handgemacht. Die Art des Einbandes war von ganz anderer Beschaffenheit als alle Bücher, die sie kannte. Sie konnte nicht sagen, aus was für einem Material der Einband bestand. Von vorne sah er schlicht aus. Er hatte kein Bild und keinen Titel. Lediglich der Buchrücken hatte eine seltsam anmutende Verzierung. Und eben diese hatte in der Dunkelheit des verlassenen Hauses ein seltsam anziehendes, schwaches Licht ausgestrahlt. Komisch, dass Simon es nicht gesehen hatte.

Sie ging mit dem Buch zurück zum Bett und kroch unter die Decke. In ihrer üblichen, gemütlichen Lesepostion betrachtete sie das Buch nochmals genau. Irgendwie war es ein gutes Gefühl, es in der Hand zu halten. Als würde es in ihre Hände gehören. Ihre zuvor unruhigen Gedanken legten sich und sie merkte, wie müde sie eigentlich war. Sie würde sich das Buch gleich morgen genauer anschauen. Mit dem mysteriösen Buch in der Hand, das sie auf eine ganz eigentümliche Weise ansprach, schlief Luisa ein.

Dieses Kapitel wurde von Tania geschrieben und am Freitag, 02. Dezember 2022, 01:49 Uhr veröffentlicht. Es enthält 854 Worte.

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Kapitel 03 - In dem ein seltsamer Traum geträumt wird

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Luisa schlug ihre Augen auf und wusste zunächst gar nicht, wo sie war. Ganz wie in einem nächtlichen Traum, wo man nicht weiß, ob man in der Wirklichkeit ist oder es sich nur um einen Traum handelt.

Um sie herum war es dunkel, ohne dass es sich bedrohlich anfühlte. Sie versuchte, sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen. Sie befand sich im Freien. Der Blick nach oben zeigte einen sternenklaren Himmel. Komischerweise hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie konnte aber niemanden entdecken. Plötzlich bemerkte sie ein leichtes Schimmern ein paar Meter neben ihr auf dem Boden. Es war das mysteriöse Buch.

Das Buch lag aufgeschlagen neben ihr und das Leuchten auf dem Buchrücken war gedämpft. Das seltsame war, dass es so schien, als würde ihre unmittelbare Umgebung ihren Anfang im Buch nehmen. Fast wie eine Sprechblase, die man aus den Comics kennt und die Simon so gerne liest. Nur war die Sprechblase riesig und reichte bis zum Himmel und zu den Sternen. Sie selbst war in dieser riesigen Blase eingeschlossen.

“Komisch”, dachte Luisa und blickte sich weiter um. “Man könnte meinen, ich bin in der Welt des Buches innen drin.” Es musste ein Traum sein. Anders konnte Luisa es sich nicht erklären. Es musste an diesem wunderschönen Sternenhimmel liegen, dass sie trotz allem keine Angst hatte. Nein, sie wollte sich eher weiter umschauen und diese Umgebung erkunden.

Komisch war dieses Gefühl, nicht allein zu sein, obwohl sie niemanden sehen konnte. “Hallo, ist da jemand?” rief sie in die Dämmerung hinein. Stille. Nein, man hatte das Gefühl, dass sich die Stille noch verstärkte. So, als hätte jemand auf ihre Worte hin den Atem angehalten.

Einem spontanen Impuls nachgebend, beschloss Luisa, dass dies ein guter Traum war und dass sie ihn nutzen wollte, um mehr über ihr mysteriöses Buch herauszufinden. Wo könnte sie das wohl besser, als im Buch selbst? Praktischer Zufall, dass alles danach aussah, dass sie gerade genau dort war. Oh mann, das klang selbst im Traum etwas verrückt. Aber hey, Träume haben keine Regeln. Sie hatte irgendwo mal aufgeschnappt, dass beim Träumen ihr Unterbewusstsein erlebte Dinge verarbeitet. Dann würde sie eben genau dies tun: sie würde den Traum nutzen, um ihr Erlebnis mit dem seltsamen Buch zu verarbeiten. Wer weiß, vielleicht war sie am Ende schlauer.

Sie beschloss so zu tun, als wäre da jemand in der Dämmerung um sie herum, der sich nicht traute herauszukommen. Immerhin war sie so einfach in seine Welt eingedrungen. Komischerweise ging sie gleich von einem “er” aus. Vielleicht weil ihr bester Freund Simon auch ein Junge war, mit dem sie sonst alles teilte.

Warum auch nicht? Es war ihr Traum und keiner würde erfahren, dass sie einem imaginären Wesen ihre verrückten Gedanken erzählt hatte. Sie beschloss sich erst mal vorzustellen. “Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber ich bin Luisa”, fing sie an. “Du wirst nicht glauben, was ich heute erlebt habe.” Und so erzählte sie in die Dämmerung hinein was ihr und Simon nach der Schule widerfahren war. Wie sie Lukas nachgejagt waren und zum verlassenen Haus kamen. Während sie vor sich hinplapperte, merkte sie, dass diese unterschwellige Anspannung, die sie vorhin gespürt hatte, etwas nachließ. Ganz so, als würde sich ihr unsichtbarer Zuhörer unmerklich entspannen. Sie erzählte also weiter.

Zuhause war ihre Mutter überzeugt, dass sie das Zeug hätte, ein spannendes Buch zu schreiben. Sie verstand es anscheinend, das Erzählte so zu verpacken, dass man ihr gern zuhörte. Also ließ sich von ihrem Bauchgefühl leiten und ging etwas mehr ins Detail. Traute sich sogar, von ihren seltsamen Gefühlen gegenüber dem mysteriösen Buch zu erzählen. Sie erzählte, dass sie sich irgendwie von dem Buch angezogen fühlte, aber es sich nicht erklären konnte, warum.

Am Ende fragte Lusia: “Hast du eine Idee was das Ganze soll? Immerhin ist es ja nicht mein Buch, ich sollte es besser zurückbringen in das verlassene Haus. So wie ich es Simon auch erzählt habe.” sinnierte sie weiter.

Plötzlich merkte sie, dass sich die Stimmung in der Luft wieder änderte. So, als würde sich ihr stiller Zuhörer gegen den Gedanken sträuben, dass sie das Buch wieder in das verlassene Haus zurück brachte. Ihrer Intuition folgend fragte sie: “Was hast du denn dagegen? Soll ich das Buch etwa nicht zurückbringen?”

Sie erwartete jeden Moment eine Stimme, die ihr antwortet. Es fühlte sich wirklich so an, als würde ihr jemand zuhören. Als würde ihr dieser Jemand antworten wollen, aber konnte es nicht. Daher schlug sie vor: “Wenn du dich mir nicht zeigen willst und auch nicht mit mir reden kannst... dann lass mich irgendwie anders wissen, was ich deiner Meinung nach mit diesem Buch machen soll: zurückgeben oder nicht?”

Sie kam sich ziemlich bescheuert vor, weil sie da saß und mehr oder weniger mit sich selbst sprach. “Dann mach's mal gut.” seufzte sie.

Luisas Blick wandte sich noch mal nach oben zum sternenklaren Himmel. Dieser Himmel hatte es ihr wirklich angetan. Sie hatte das Gefühl, sie müsste ihn sich gut einprägen, bevor sie aus diesem Traum wieder aufwachte. Ihr unsichtbarer Gesprächspartner schien zu spüren, dass sie bereit war, sich zu verabschieden und aus ihrem Schlaf aufzuwachen. Sie meinte sogar zu spüren, dass etwas Gehetztes in der Luft lag. So, als würde ihr stiller Zuhörer sie noch eine Weile im Buch behalten wollen.

Während sie ihren Gedanken nachhing, merkte sie, wie sich um sie herum die Stimmung wieder änderte. Ein ganzes Stückchen von ihr weg begann die Luft zu flimmern. Das dämmrige Licht wurde zunehmend heller an dieser Stelle. Mitten im Licht sah sie sich mit dem Buch in der Hand in ihrem Bett daheim liegen. Es war, als würde sie vor dem Fernseher sitzen und einen Film anschauen, in dem sie selbst mitspielte. Sie sah gebannt zu, wie ihr Abbild das Buch aufschlug und wie sich dabei das Zimmer mit ihrem Bett darin verwandelte. Plötzlich war ihr Abbild nicht mehr in ihrem Zimmer in ihrem Bett, sondern unter einem sternenklaren Himmel und schaute hinauf.

“Schaue ich mir da gerade selbst zu, wie ich in dem Traum abgekommen bin?” Luisa kniff ihre Augen ungläubig zusammen und als sie sie wieder aufschlug, war nichts mehr zu sehen. Sie war wieder allein unter dem sternenklaren Himmel ihres Traumes, wie am Anfang. Sie holte tief Luft und fragte in die Leere hinein: “War das etwa deine Art, mir zu zeigen, was das Ganze hier soll? Willst du mir etwa sagen, dass das mysteriöse Buch mich in diesen Traum reingebracht hat? Ich weiß immer noch nicht was ich tun soll.” murmelte sie. Wiederum fing die Luft an, hell zu flimmern. Diesmal sah sie sich im Bett liegen und schlafen. Auf ihrem Nachttisch neben der Leselampe lag das Buch so, als würde es ihr gehören. Ganz so, als hätte sie es vor dem Schlafengehen dort hingelegt, nachdem sie darin geschmökert hatte. Wieder verschwamm das Bild und sie war wieder allein in ihrer Traumwelt unter dem Sternenhimmel.

Sie meinte aber zu verstehen, was ihr stiller Zuhörer ihr sagen wollte. “Ich soll also das Buch nicht zum verlassenen Haus zurückbringen, sondern erstmal behalten?” raunte sie. Um sie herum herrschte friedliche Stille. Die Sterne am Himmel schienen heller zu leuchten.

Ganz so, als wären sie und ihr unsichtbarer Gesprächspartner einverstanden mit ihrer Schlussfolgerung.

Dieses Kapitel wurde von Tania geschrieben und am Samstag, 03. Dezember 2022, 03:09 Uhr veröffentlicht. Es enthält 1209 Worte.

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Kapitel 04 - In dem bei dem Buch übernachtet wird

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“Das Buch wurde betreten!” sagte die gleiche kratzige, dunkle Stimme in dem gleichen fast ganz dunklen Raum über dem gleichen riesigen, kreisrunden Holztisch. Wieder saßen um den Tisch herum Gestalten in dunkelgrünen Mänteln mit den riesigen Kapuzen. Wieder konnte man nichts von den Gestalten oder ihren Gesichtern sehen.

“Woher wissen wir das?” fragte die bekannte meckernde, hohe Stimme aus einer der Roben. “Das Buch wurde schon lange nicht mehr betreten, warum ausgerechnet jetzt?”

“Wir haben Spuren gefunden. Die Energie wurde jetzt sogar mit den Konzentratspulen aufgezeichnet. Eine Energie, die wir noch nie gemessen haben. In keiner Rolle im Archiv ist etwas Derartiges verzeichnet.” sagte die kleine Stimme, dieses Mal sicher und bestimmt, vielleicht sogar mir einer Spur Ungeduld.

Nur die Gestalt mit der besonders großen Kapuze blieb dieses Mal still.


“Mama, darf Simon am Wochenende bei uns übernachten?” Luisa packte ihren ganzen Charme aus und streichelte ihrer Mutter über die Schulter. Sie hatte fertig gefrühstückt, sogar alle ihre Sachen vom Tisch in die Spülmaschine geräumt und war auf dem Weg ins Badezimmer, um die Zähne zu putzen. Ganz wie zufällig war sie bei ihrer Mutter vorbeigelaufen, die gerade noch die Tasse Cappuccino über der dritten Seite der Zeitung austrank.

“Schon wieder?” fragte ihre Mutter beiläufig. “Wird Simon zu Hause nicht ein bisschen vermisst? Mir kommt es vor, als ob er seit den Sommerferien jede 2. Woche hier übernachtet hat.” Luisa legte ihr noch zwei Stückchen Paprika auf den Frühstücksteller. Paprika mochte ihre Mutter besonders.
“Och bitte, Simons Mama ist total froh, wenn sie mal ausschlafen darf.”
“Das wäre ich auch an ihrer Stelle.”
“Wir lassen dich schlafen, versprochen. Bis um neun!” Luisa legte eine Hand auf die Zeitung, genau auf den Artikel, den ihre Mutter gerade las.
“Versprochen?”
“Na gut. Aber du richtest sein Bett her.”
“Super! Klar, mach ich. Danke, Mama!” Luisa hüpfte einen kleinen Glückshüpfer, drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Backe und rannte ins Bad.

...

Der Nachmittag hatte sich hingezogen wie Kaugummi. Als die Türklingel ertönte, wusste sie sofort, dass Simon draußen stand.
“Komm, rein, wir müssen dein Bett richten!” rief sie atemlos und ließ einen verdatterten Simon im Türrahmen stehen, packte seine Tasche und rannte die Treppe hoch zu ihrem Zimmer.
“Was ist denn mit dir los?” fragte Simon verwundert. “Du bist doch sonst nicht so eine Früh-Ins-Bett-Geherin.” Luisa drehte sich um und legte einen Finger über die Lippen.
“Es gibt ein Geheimnis.” murmelte sie leise.

Nach dem Abendessen wollte Simon unbedingt noch mit Luisa und ihren Eltern ein Spiel spielen. Luisa hatte überhaupt kein Verständnis dafür. Aber weil sie Angst hatte, dass ihre Eltern Verdacht schöpfen würden, machte sie einfach mit und vergass dabei beinahe das Buch und ihren Plan. Simon liebte die Spiele bei Luisa. Sein großer Bruder wollte nie mit ihm spielen und sein Vater kam sowieso meist zu spät von der Arbeit und war dann oft abwesend und nicht besonders interessiert am Spielen. Luisas Eltern hingegen spielten gerne und hatten auch ganz viele und sehr verschiedene Spiele. Luisas Mutter war meistens ziemlich gut und Simon wollte sie unbedingt schlagen. Sein Ehrgeiz erwachte meist bei der zweiten Runde und ab und an war er am Ende des Abends der knappe Sieger der Runden. Luisa spielte meist mit und es war ihr wichtiger, dass alle miteinander auskamen und es ein lustiger Abend war, als dass sie sich ums Gewinnen scherte. “Es ist doch nur ein Spiel,” hatte sie von ihrer Oma oft gehört und inzwischen verstand sie auch, was ihre Oma damit meinte.

...

“Gute Nacht, ihr beiden” sagte Luisas Papa und schloss die Türe leise. Endlich konnte Luisa Simon von ihrem Geheimnis berichten.

“Simon, du weisst doch, dieses Buch...”
“Ah, gut, du willst es also zurück bringen?”, fiel ihr Simon schnell ins Wort. “Nein! Im Gegenteil, hör mir zu. Ich habe es gestern vor dem Einschlafen nochmals in der Hand gehabt und da war ein ganz komisches Gefühl. Wie wenn es mir gehören würde.”
“Wirklich?”, fragte Simon ungläubig. “Ist es nicht nur, weil du es einfach so mitgenommen hast? Es gehört den Besitzern des verlassenen Hauses. Vielleicht hatten die alten Leute ja Kinder und Enkel und die werden es bestimmt vermissen. Und selbst wenn die noch nie dort gewesen sind, gehört es denen.”

“Nein, Simon, es war ganz anders. Hör mir doch erst mal richtig zu.” entgegnete Luisa ein bisschen ungeduldig.
“Ich habe es ja nicht mal aufgemacht oder angeschaut. Ich hatte es nur in der Hand. Vor lauter Aufregung habe ich es sicherheitshalber im Ranzen gelassen und auch als Mama gegangen war, hab ich es nur festgehalten. Und da war dann das Gefühl. Es hat mich unheimlich beruhigt.”

Simon hörte nun zu und unterbrach sie nicht mehr. Er hatte bemerkt, dass es ihr um etwas Wichtiges ging und er wollte erst alles hören, denn er verstand seine Freundin nicht wirklich. Noch hatten sie nicht in das alte schwere Buch hinein geschaut. Er war zwar auch neugierig, aber gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen. Er hätte sowieso nicht in das verlassene Haus gehen wollen. Nur weil Luisa voraus ging, konnte er sie nicht alleine lassen.

“Und jetzt kommt das Komische: ich bin eingeschlafen und habe von dem Buch geträumt. Das Buch hat mich mitgenommen, ich war plötzlich wo anders. Das war kein gewöhnlicher Traum, das war wie eine Reise,” flüsterte Luisa eindringlich und aufgeregt.
“Ich habe einen Sternenhimmel gesehen, ich habe mit dem Buch gesprochen und es hat irgendwie geantwortet. Es war, wie wenn ich seine Gedanken lesen könnte.” Luisa schluckte und Simon kräuselte seine Stirn.

“Hört sich verdammt seltsam an, Luisa. Wahrscheinlich ein Alptraum. Hast du zu viel gegessen oder so? Mein Papa stöhnt nachts oft, wenn er abends zu viel gegessen hat. Manchmal höre ich das, wenn ich wach liege.”
“Nein, das war genau das Gegenteil. Ein schöner Traum, kein Alptraum. Und weisst du was?” sie nahm seine Hände und sah ihn eindringlich an, direkt in seine Augen.

“Heute Nacht träumen wir zusammen!”

Dieses Kapitel wurde von Magnus geschrieben und am Sonntag, 04. Dezember 2022, 03:25 Uhr veröffentlicht. Es enthält 995 Worte.

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Kapitel 05 - In dem von einem mächtigen Unbekannten erfahren wird

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Das Mädchen... Luisa. Sie geht mir nicht aus dem Kopf. Sie hat mit mir geredet! Wie lang ist es her, dass jemand mit mir geredet hat? Das ist eine angenehme Abwechslung zu der Stille und Einsamkeit meiner langjährigen Gefangenschaft. Dabei hat sie mich nicht einmal gesehen.

Jahrelang bin ich in den Welten des Buches umher gewandert und habe versucht, des Rätsels Lösung zu finden. Wenn es mir gelingt, wäre ich frei!

In den Welten des Buches sollen die Hinweise zur Lösung sein. Inzwischen kenne ich diese Welten in und auswendig und habe gefühlt jeden einzelnen Stein umgedreht. Nichts... rein gar nichts habe ich gefunden, was mich irgendwie weitergebracht hat.

Und dann steht sie auf einmal da. Das Mädchen. Und scheint mich wahrzunehmen. Immerhin hat sie das Buch mitgenommen. In der Nacht darauf habe ich die Gelegenheit ergriffen, als sie mit dem Buch in der Hand eingeschlafen ist. Ich stelle fest, dass ich sie in die Welten des Buches hereinholen kann!

Ich denke nicht gerne zurück an meine Kindheit. Als Vollwaise in den ärmsten Vierteln des Kennara-Slums aufzuwachsen, hinterlässt keine schönen Erinnerungen. Ich war noch weniger Wert als der Abfall, der sich auf den Straßen der Slums häufte. Den konnte man wenigstens teilweise wiederverwenden. Ich dagegen, bin als völlig nutzlos betrachtet worden und wurde auch so behandelt.

Es grenzt schon fast an ein Wunder, dass ich die Zeit des Erwachens überhaupt erreicht habe. So wird die Phase im Leben meines Volkes bezeichnet, in der sich die individuellen Mächte jedes Einzelnen zum ersten Mal zeigen. Während manche eine unnütze Gabe haben, besitzen andere weitaus stärkere und weitreichendere Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten stellen die Basis unserer gesellschaftlichen Rangordnung dar: je größer die Macht, desto höher die Stellung.

Unsere Fähigkeiten werden in der Regel vererbt. Daher kommt es auch so gut wie nie vor, dass aus den niederen Schichten jemand zu den Höchsten aufsteigt. Das Schicksal scheint aber bei mir eine große Ausnahme gemacht zu haben. Denn es stellt sich heraus, dass meine Kräfte zu den beeindruckendsten Fähigkeiten gehören, die unser Volk jemals gesehen hat. Nach jahrelangem Kampf ums nackte Überleben weiss ich diese Kräfte auch richtig einzusetzen. Ich habe darauf geachtet, dass es mir nie wieder schlecht geht. Wieso soll ich mich darum scheren, wem es dabei nicht gut geht? Hat jemals jemand nach mir geschaut? Nein! Sollen sie sich also nicht wundern, warum ich so bin, wie ich bin!

Ich bin nicht zimperlich und scheue nichts, um zum Ziel zu kommen. So manch einer zittert, wenn er meinen Namen hört. Ich werde als böse und skrupellos bezeichnet. Entgegen aller Erwartungen hat mir das Schicksal ungeahnte Macht verliehen. Vielleicht ist es die Gerechtigkeit des Universums. Dafür, dass ich in meiner Jugend so gelitten habe und mißhandelt wurde von mächtigeren Wesen. Jetzt haben sich die Verhältnisse umgedreht. Ich habe die Macht und kriege meinen Willen! Und wenn nicht, wird es schmerzen. Ich scheue nicht davor zurück, dort zuzuschlagen, wo es am meisten weh tut. Denn diese Sprache verstehen alle.

Mir ist nur nicht klar gewesen, dass der willkürliche und skrupellose Einsatz meiner Kräfte mich in dieses Gefängnis führen würde. Der Rat der Weisen ist auf meine Kräfte aufmerksam geworden und hat mich zur Gefangenschaft verurteilt, da sie mich als Bedrohung wahrnehmen. Meine Unerfahrenheit hat mich in die Falle tappen lassen, die man mir gestellt hat. Sollte ich jemals hier herauskommen, wird das nicht noch einmal passieren. Ich habe meine Lektion gelernt.

Und nun ist sie da: meine Chance, zu entkommen. Ich darf nur nichts überstürzen. Darf nicht riskieren, dass dieses Mädchen Angst bekommt und das Buch in das verlassene Haus zurück bringt. Aus diesem Grund habe ich sie das erste Mal unter das Sternenzelt gebracht. Die einzig schöne Erinnerung aus meiner Kindheit. Unter den Weiten des sternenklaren Himmels habe ich es trotz der elenden Situation meiner Kindheit gewagt, zu hoffen, dass ich den nächsten Tag schaffen würde.

Meine Rechnung ist aufgegangen. Das Mädchen mochte mein Sternenzelt. Ich habe mich vorsichtshalber nicht gezeigt und auch nichts von mir hören lassen. Kann nicht riskieren, dass sie, wie meine Zeitgenossen, vor mir zurückschreckt. Nein, ich werde meine Karten geschickt ausspielen und sie dazu einsetzen, aus dieser nun 253-jährigen Gefangenschaft zu entkommen!

Sie soll die Steine für mich finden. Vielleicht hat sie mehr Glück als ich. Vielleicht braucht es einen neuen Ansatz, um die Steine zu entdecken. Seit Jahrzehnten ist jetzt zum ersten Mal wieder etwas Neues möglich.

Ich werde sie lenken und werde ihr helfen. Ich werde ihr zeigen, was ich herausgefunden habe. Ich werde sie in gutem Glauben lassen und hoffen, dass sie die Steine findet.

Dann, wenn sie Erfolg hat, dann, wenn sie die Steine gefunden hat, dann werde ich zuschlagen. Dann werde ich sie ihr nehmen und mit dem Ring entfliehen. Dann bin ich frei!

Ich brauche nur einen guten Plan.


“Er schmiedet Pläne” sagte die kratzige, dunkle Stimme in dem fast ganz dunklen Raum über dem riesigen, kreisrunden Holztisch. Erneut saßen um den Tisch herum die Gestalten in dunkelgrünen Mänteln mit den riesigen Kapuzen. Auch jetzt konnte man nichts von den Gestalten oder ihren Gesichtern sehen.

“Woher wissen wir das?” fragte die meckernde, hohe Stimme aus einer der Roben.
“Haben wir ihn nicht gut genug gebunden? Haben wir ihn nicht mit unseren Welten gebändigt und seine Energie neutralisiert?”

“Er hat lange genug im Buch verbracht. Er weiß nun, dass er etwas anderes versuchen muss. Er wird einen ersten Erfolg haben.” sagte die kleine Stimme erklärend.
“Lassen wir ihm diese Freude. Lassen wir ihm die Illusion, dass er sich selbst befreien könnte, würde er nur die Steine der Weisheit finden. Halten wir unsere Falle weiterhin bereit und vor seinen Augen sichtbar, um sicher zu stellen, dass er niemals aus dem Buch entkommen kann. Nicht so lange er ist, wie er ist.”

Die Gestalt mit der besonders grossen Kapuze stand felsenfest und sprach: “Ein Rätsel um ihn zu binden,
drei Steine, um Gold zu finden.
Die Macht,
wenn er erwacht,
haben wir gedacht.
Sie wird ihn ins Verderben treiben,
denn er wird Seiner treu verbleiben.
Durch unsere Hand
ist seine Kraft gebannt
nie wird sein Name genannt.”

Alle Kapuzen nickten langsam und bedächtig.

Kapitel 06 - In dem das Rätsel offenbar und ein Berg bestiegen wird

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Luisa und Simon schauten sich ungläubig an. Sie konnten es nicht fassen. Sie befanden sich zusammen in einer total fremden Umgebung. Die Luft war feucht und kühl, ein fahles Licht drang durch trübe Wolken. Sie standen am Fuße eines gigantischen Berges. Die Spitze des Berges war nebelverhangen und nur zu erahnen. Überhaupt schien dieser Berg unwirklich, so steil, so unbezwingbar.

Simon rieb sich die Augen. Der Berg schien zu schweben. “Siehst du, was ich sehe, Luisa? Der Berg schwebt. Wie kann das sein?” fragte er seine beste Freundin. “Ja! Es muss ein Traum sein! Wir sind wieder in einem Traum, wie ich es gehofft habe. Verstehst du nun, was ich dir erzählen wollte?”, antwortete sie Simon.

Sie waren tatsächlich zusammen in einem Traum. Nach ihrem letzten Traum alleine, war sie nun mit Simon zusammen in einer neuen, mysteriösen Welt. Die einzige, für sie plausible Erklärung war, dass sie in dem Buch steckten, weil sie beide ihre Hand beim Einschlafen auf dem Buch hatten. Es war ganz so wie beim ersten Mal, wo Luisa alleine eingeschlafen war.

“Seltsam”, murmelte Simon und sah sich um.

“Wo sind wir hier nur gelandet und was sollen wir hier?” überlegte Luisa laut. “Das letzte Mal hatte ich irgendwie den Eindruck, dass etwas mit mir reden würde und ich habe das Buch im Traum gesehen. Dieses Mal sind wir einfach nur drin und da ist dieser schwebende Berg,” dachte sie bei sich. Irgendwie lief das diese Nacht anders, als sie sich das vorgestellt hatte. Aber wie lief es überhaupt?

Wie immer ging Simon die Sache ganz praktisch an. “Lass uns eine Bestandsaufnahme machen, Luisa”, schlug er vor. “Bestandsaufnahme? Was meinst du damit?” wunderte sich Luisa. “Ich sehe, dass du deinen Rucksack dabei hast. Schau mal rein, was alles drin ist. Such auch gleich deine Jacken- und Hosentaschen durch. Vielleicht hilft uns da irgendwas, um rauszufinden, warum wir hier sind”, teilte Simon Luisa seine Gedanken mit.

In Luisas Rucksack fanden sie etwas Proviant für unterwegs, sowie 2 Trinkflaschen. Simon fand in seiner Jackentasche ein Stück Landkarte aus dem Heimat- und Sachkundeunterricht. Sie sah aber im Detail ganz anders aus als die von zuhause. In den Büschen rings herum fanden sie nicht. Aber als sie eine Weile gestöbert hatten, zog sie ein seltsames und bestimmtes Gefühl zu einer kleinen Gruppe Felsen ein Stück bergan. Wie wenn sich Gedanken in ihrem Kopf bilden würden.

“Luisa, was ist das denn?” rief Simon irritiert. “Kannst du in meinen Kopf was reindenken?” Er drehte sich um und starrte sie suchend an. “Keine Angst, das was bei mir beim letzten Mal auch so. Ich sah einen Sternenhimmel und die Gedanken waren wie ein Gespräch. Lass es einfach geschehen. Ich glaube nicht, dass es gefährlich ist,” versuchte sie, Simon zu beruhigen. Der war ziemlich aus dem Häuschen und verwirrt. “Wir sollen zu diesen Felsen. Halt die Augen offen!” rief Luisa und lief ihren fremden Gedanken hinterher.

“Schau!” schrie Simon, der an einem großen Felsen etwas entdeckt hatte. Und tatsächlich: unter ein paar Efeuzweigen waren im Felsen seltsame, kleine, regelmässige, schwarze Einkerbungen, die ein Muster bildeten. Umrahmt von einer weiteren Reihe an Symbolen stand in der Mitte des Steins in verschnörkelter Schrift ein Satz:

”Finde das unsichtbare, aber dennoch unbezahlbar wertvolle Gut, welches es nicht zu kaufen gibt. Die Steine der Weisheit aus den Welten zeigen den Weg zum Ausgang.”

“Oha. Das klingt doch ganz nach einer Aufgabe”, fand Luisa. “Ausgang...”, murmelte Simon und fasste sich an sein rechtes Ohr. Luisa wusste aus Erfahrung, dass ihr Freund das immer tat, wenn er tief in Gedanken versunken war. Man konnte dann förmlich sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. “Hattest du nicht gesagt, dass da in deinem ersten Traum noch jemand anderes war? Vielleicht sucht dieser Jemand den Ausgang aus diesem Buch. Und wir sollen ihm helfen, dieses Rätsel zu lösen.” überlegte Simon. Luisa grinste von einem Ohr zum anderen. Ihr Simon war echt verdammt gut im Kombinieren. Sie war bereit für ein Traumabenteuer. Und sie konnte sich keinen besseren Partner dafür vorstellen, als Simon. Als Simon ihr breites Grinsen und die freudig glitzernden Augen sah, war ihm klar, dass es kein Halten mehr gab. Auch sein Ehrgeiz war geweckt. Sie würden dem gesuchten Gut schon auf die Spur kommen.

In einer Herberge kurz nach dem ersten Anstieg auf den schwebenden Berg erfuhren sie, dass dies die letzte Station vor dem beschwerlichen Aufstieg war. Oben auf dem Berg sei die Ruine eines sehr alten Tempels. Dieser Tempel würde wohl von vielen aufgesucht, die auf der Suche nach den Steinen auf den Pfaden der Weisheit unterwegs waren. Bisher sei hier niemand erfolgreich gewesen. Sie erfuhren auch, dass der Aufstieg schwierig war. Etwa alle 3-4 Stunden käme es zu heftigen Regengüssen, die die schmalen und steinigen Wege unpassierbar und damit den steilen Aufstieg schier unmöglich machten. Der Aufstieg dauere schon im zügigen Schritt etwa drei Stunden. Man sei gut beraten den Aufstieg so zu planen, dass man oben ankäme, ohne in den Regen zu geraten.

Mit diesen Hinweisen warteten Lusia und Simon den nächsten Regenguss ab und machten sich dann auf den Weg. Sie legten ein zügiges Tempo vor mit dem Ziel, noch vor dem nächsten Regen oben anzukommen. Nach etwa anderthalb Stunden Aufstieg standen ihnen beiden die Schweißperlen auf der Stirn. Es war anstrengend. Sie waren nicht gewohnt, so lange bergauf zu gehen und je höher sie kamen, desto kühler wurde es und der Nebel machte die Kleider klamm. Die Trinkflaschen waren bereits halb leer und auch die Beine wurden schwer und schwerer. Da zeigte Simon plötzlich nach vorne.

Ein ganzes Stück über ihnen sahen sie zwei Gestalten, die sich mühsam den schmalen Pfad hoch kämpften. Der eine von ihnen stützte sich schwer auf einen Stock und ging gebeugt. Er sah alt und gebrechlich aus und hatte einen zotteligen, dünnen Bart. Der jüngere von beiden zog einen alten, hölzernen Sitzwagen hinter sich her und kam bei dem steilen Aufstieg damit kaum vorwärts. Es sah ganz so aus, als ob der ältere Mann aus dem Sitzwagen ausgestiegen war und nun versuchte, mühsam auf seinen eigenen Beinen hoch zu kommen, um es dem jüngeren Mann etwas einfacher zu machen, den unhandlichen Wagen zu ziehen.

Simon sah, wie Luisa beim Anblick der beiden mitfühlend die Stirn in Falten zog und wusste, dass sie überlegte, den beiden ihre Hilfe anzubieten. Simon packte sie schnell am Handgelenk und nahm sie beiseite. “Luisa, denk daran... wenn wir unser Tempo nicht beibehalten, werden wir es nicht vor dem nächsten Regen nach oben schaffen.” Luisa runzelte ihre Stirn und entgegnete: “Ohne Hilfe werden die beiden es ganz sicher nicht schaffen. Schau doch! Der alte Herr sieht aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.”

Während sie da standen und überlegten was sie machen sollten, eilte ein anderer langbeiniger Wanderer zügig an ihnen vorbei. Bisher hatten sie niemanden gesehen. Jetzt waren sie erleichtert, dass sie nicht alleine auf den unsicheren Pfaden waren.

Schon bald sahen sie den schnellen Wanderer an den zwei wackeligen Gestalten vor ihnen vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Luisa war entrüstet. Diese Rücksichtslosigkeit gab ihr den letzten Schubs. “Wir riskieren es Simon! Wir müssen ihnen helfen. Sie werden sonst verunglücken.” In diesem Punkt musste Simon ihr Recht geben. Die zwei würden es nicht alleine schaffen und mit dem Wagen war es ein leichtes, von dem rutschigen Pfad abzukommen. Gleichzeitig sah er die Gefahr steigen, dass sie auf dem unwegsamen Gelände auch zusammen verunglücken könnten. Als er den entschlossenen Zug um Luisas Mund bemerkte, wusste er, dass sie niemals an den beiden vorbeilaufen würde, ohne ihre Hilfe anzubieten. Seine Freundin Luisa hatte ein großes Herz und das liebte er so an ihr. Also: Mithelfen! Wenn, dann würden sie es nur gemeinsam schaffen.

Man konnte den beiden Männern die Erleichterung ansehen, als Simon und Luisa ihre Hilfe anboten. Der alte Mann setzte sich wieder zurück in den Sitzwagen und Luisa und Simon halfen dem jungen Mann abwechselnd, den Wagen über die Holpersteine den steilen Berg hoch zu ziehen. Trotz vereinter Kräfte kamen sie nur langsam voran und über ihnen brauten sich die angekündigten, dunklen Gewitterwolken drohend zusammen.


Was machen die beiden da?! Sie werden es niemals auf den Gipfel schaffen bevor das Unwetter kommt. Das ist ja zum Haare raufen, so viel Dummheit. Gut, dass ich gerade keine Haare habe.

Meine Erfahrungen in der Welt des schwebenden Berges waren schon schmerzhaft und zahlreich genug. Warum nur kann man sich seine Chancen so verbauen? Sie hätten heil oben ankommen können. Jetzt helfen sie den beiden Trotteln und verlieren wertvolle Zeit. Wie sollen sie den Stein der Weisheit in dieser Welt finden, wenn sie es nicht mal nach oben zum Tempel schaffen?

Ich bin doch schon unzählige Male diesen Berg hoch gestiegen. Jedes Mal bin ich an diesem hoffnungslosen Paar vorbeigekommen. Die zwei haben es noch nie nach oben geschafft! Ich schon. Auch wenn es mir nichts gebracht hat. Kein Stein, nichts.

Irgendwas muss ich übersehen haben. Ich hab keine Hoffnung mehr, dass die zwei Kinder mit ihrem Versuch erfolgreich sein werden. Jede Minute, die sie mit Helfen verlieren, ist vergeudete Zeit! Und wenn sie vom Regen hinuntergespült werden, wer weiß, ob sie mir dann in den anderen Welten noch dienlich sein können?

Dabei hat es so gut angefangen. Dieser Freund von dem Mädchen ist ein cleveres Köpfchen. Ohne Mühe hat er das Rätsel richtig gedeutet. Wenn die beiden eine realistische Chance haben sollen, den Aufstieg zu schaffen, muss ich jetzt eingreifen. So ein Ärger. Doch ich kann es mir nicht leisten, meine Chance zu verlieren. Also...

Kapitel 07 - In dem Naturgewalten besiegt werden

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“Sie sind zu zweit!” sagte die bekannte kratzige, dunkle Stimme in dem bekannten, fast ganz dunklen Raum über dem inzwischen vertrauten, riesigen, kreisrunden Holztisch. Immer noch saßen um den Tisch herum Gestalten in dunkelgrünen Mänteln mit... ja, tatsächlich, immer noch mit riesigen Kapuzen. Trotzdem konnte man wieder nichts von den Gestalten oder ihren Gesichtern sehen.

“Woher wissen wir das?” fragte die unvermeidliche, meckernde, hohe Stimme aus einer der Roben. “Erst ein Wesen, jetzt zwei. Wollen das nächste Mal dann drei oder noch mehr kommen? Warum erfahren wir das immer erst danach?”

“Wir haben sie beobachtet. Es sind junge Wesen, kaum 100 Jahre alt, wahrscheinlich viel weniger. Nichts aus der Unendlichkeit. Sie machen keinen gefährlichen Eindruck. Sie sind zu klein, um durch unsere Wandelblocker abgehalten zu werden.” sagte die kleine Stimme, dieses Mal nachdenklich, mit einer kleinen Prise Neugier.

Die besonders große Gestalt brummte nur und legte eine riesige Pfote auf den Tisch. Sechs scharfe Krallen klackerten auf dem Holz. “Mein Plan sieht folgendermassen aus...”


Luisa, Simon und ihre beiden Wegbegleiter sahen sich bald gezwungen, eine Verschnaufpause einzulegen. Gierig nahmen sie beide Rieselemqosnschlucke aus ihren Trinkflaschen. Der alte Mann saß zusammengesunken da und machte einen völlig erschöpften Eindruck. Der Jüngere schielte immer wieder zu ihren Trinkflaschen.

Plötzlich wurde Luisa klar, dass die beiden kein Trinkwasser mehr hatten. Luisa und Simon schauten sich an und verständigten sich wortlos. Simon nickte ihr zu und Luisa gab ihre Trinkflasche an den Jüngeren der beiden weiter mit den Worten: “Hier, teilt es euch gut ein für den Rest des Weges.” Der Alte hob müde den Kopf und bedankte sich mit einem Lächeln, während der jüngere Mann verschämt die Augen senkte. Denn ihm war klar, wie selbstlos und großzügig die beiden Freunde sie auf dem Weg nach oben unterstützten. Den Kindern konnte unmöglich entgangen sein, dass sie ihre Chance darauf, oben heil anzukommen, immer mehr verspielten.

Nach der kurzen Verschnaufpause rappelten sich die Vier wieder auf und machten sich weiter an den Aufstieg, der unwegsam und abweisend vor ihnen lag. Auf einmal war ein seltsamer Laut zu hören. Luisa horchte auf und versuchte durch den Nebel etwas zu erkennen. “War das etwa ein Wiehern?!” fragte sie ungläubig in die Runde. Tatsächlich sah sie schemenhaft die Umrisse eines Mustangs auf dem Weg vor ihnen. Die Pferdenärrin Luisa wusste, wie trittsicher Mustangs auf unwegsamem Gelände sein konnten. Und vor ihnen stand tatsächlich ein prächtiges und kräftiges Exemplar auf dem Weg. Als sie näher kamen, schüttelte der Mustang wild seine Mähne und schnaubte laut. Ganz so, als würde er ihnen seine Hilfe anbieten. Luisa näherte sich dem Mustang vorsichtig und flüsterte ihm beruhigend zu. “Würdest du uns den Weg hinauf helfen? Wir könnten deine Hilfe gut gebrauchen. Wir haben ein Seil, das wir dir anlegen könnten, um den Wagen zu ziehen…” fuhr sie fort. Wieder schnaubte der Mustang, als würde er zustimmen. Luisa stand jetzt in Armeslänge bei ihm und streckte die Hand aus, um ihm über die Nüstern zu streicheln. Gerade in diesem Moment wandte der Mustang seinen Kopf zur Seite, so dass Luisa einen Blick auf seine Augen werfen konnte.

Der Mustang hatte ganz ungewöhnliche Augen. Sie erinnerten Luisa an Tigeraugen die ihrem Blick wach begegneten. Als ihre Hände seine Nüstern berührten, erstarrte das Tier für einen Augenblick, fast wie wenn Berührungen etwas Ungewohntes für ihn wären. Da er jedoch weder erschrak, noch Anstalten machte, erschrocken wegzuspringen, schlang Luisa ihm das Seil um den Hals, führte ihn vor den Sitzwagen des alten Mannes und spannte ihn daran an. Mit Hilfe des trittsicheren Mustangs, der willig den Wagen zog, kamen sie jetzt wesentlich schneller voran.

Inzwischen hatte es angefangen wie aus Eimern zu schütten. Helle Blitze zuckten über den Himmel und unmittelbar darauf kam stets ein gewaltiges Donnern. Das Gewitter schien sich genau über ihnen zu befinden. Der Aufstieg wurde nun sehr schlammig und glitschig. Mehr als einmal mussten sich die vier Bergsteiger am starken Körper des Mustangs festhalten, um nicht abzustürzen. Endlich kam die Spitze des Berges in Sicht. Oben auf dem Gipfel angekommen, blieb der Mustang zitternd stehen und schnaubte schwer. Dankbar strich ihm Luisa über den Hals und flüsterte: “Dich hat uns der Himmel geschickt. Ohne dich hätten wir es nie und nimmer geschafft!” Simon nickte zustimmend und versuchte seine pitschnassen Jackenärmel auszuwringen.

Just in diesem Moment hörte der Regen auf und die Sonne drückte sich mühsam zwischen den Wolken hervor. Luisa atmete auf und band den Mustang vom Wagen los. Dieser warf zum Abschied seinen Hals zurück und trabte davon. Luisa schaute ihm hinterher, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie würde das Tier mit den seltsamen Tigeraugen nicht vergessen und komischerweise irgendwie auch ein bisschen vermissen.

Sie drehte sich um und bewunderte mit den anderen die einzigartige Aussicht, welche sich vor ihnen erstreckte. Der Alte, der aus dem Sitzwagen ausgestiegen war, wandte sich ihnen beiden zu und sagte: “Wir sind euch sehr dankbar für eure Hilfe. Wie können wir uns erkenntlich zeigen?” Simon und Luisa blickten sich an. “Wisst ihr, wir sind hier auf der Suche nach einem Stein der Weisheit. Uns wurde gesagt, dass hier jedoch noch nie ein Stein gefunden wurde, obwohl viele danach gesucht haben,” erwiderte Simon. Da schauten der junge und der alte Mann einander an und drehten sich ihnen beiden lächelnd zu. “Das ist kein Wunder, denn wir beide sollten den Stein der Weisheit nach oben bringen. Er gehört auf diesen Berg. Ohne Hilfe waren wir jedoch nie in der Lage, es bis nach oben zu schaffen. Vor euch hat uns nie jemand geholfen”, sagte der junge Mann. “Jeder war eifrig darauf bedacht, so schnell wie möglich vor dem Regen den Berg zu erklimmen. Sie konnten den Stein jedoch nicht finden, weil er schlichtweg noch nicht oben war! Ihr jedoch wart mitfühlend und selbstlos in eurer Hilfe. Daher seid ihr auch würdig, den Stein der Weisheit zu erhalten,” sagte der Ältere der beiden. Der Mann griff in das Innere seines Gewands, holte einen seltsam geformten, rot schimmernden Stein hervor und reichte diesen Luisa.

Luisa und Simon sahen sich mit riesigen Augen an und konnten nicht fassen, dass sie es tatsächlich geschafft hatten, den ersten Teil des Rätsels zu lösen und diesen Stein zu bekommen. Und das, obwohl es zwischendurch ganz danach aussah, als würden sie es nicht mal bis nach oben auf den Berg schaffen. Sie erkannten staunend, dass gerade ihre Hilfsbereitschaft sie zum Ziel geführt hatte.

Zwei goldbraune Augen blickten wie gebannt auf diese Szene.


Das war es also, was ich all die Jahre übersehen habe! Die beiden Hilfsbedürftigen waren in diesem Fall der Schlüssel zum Ziel. Darauf wäre ich nie gekommen. Die beiden Freunde haben es tatsächlich auf Anhieb geschafft, die Herausforderung zu meistern.

Ich muss zugeben, dass es ein bisher unbekanntes, aber angenehmes Gefühl war, mit den vier Menschen erschöpft oben auf dem Berg zu stehen. Und Luisa... Luisa hat mich überrascht, als sie sich atemlos bei mir bedankt hat. Sie hat sich bei einem Pferd bedankt! Sie konnte ja nicht ahnen, dass ich es bin. In einer anderen Situation hätte ich sie für völlig übergeschnappt gehalten und sie innerlich ausgelacht. Doch sie hat mir zum Dank sogar über meinen Hals gestrichen! Diese einfache Geste, verbunden mit ihren Worten hat mich auf eine sonderbare Weise berührt.

Was für ein Unsinn! Ich muss diese irrwitzigen Gedanken wieder loswerden, sofort!

Kapitel 08 - In dem scharf gegessen und fremde Schriften geschrieben werden

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Mit einem Mal war Simon wach.

Er erinnerte sich an die beiden Männer, an den Stein und daran, dass Lusia ihn in ihrer Hand gefunden hatte, als sie am Morgen sehr früh und jeder mit einer Hand auf dem Buch aufgewacht waren. Im Traum war der Stein groß wie ein Handteller gewesen. In echt war er enttäuschend winzig. Sie hatten ihn in eine kleine Dose getan und bei Luisa im Kinderzimmerschrank versteckt.

Simon war plötzlich klar, dass sie in einer Sache steckten, in der Vieles im Ungewissen war. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie gut weitere Hilfe gebrauchen könnten. Das Abenteuer mit Luisa und dem Buch war gerade nochmals gut ausgegangen. Sie hatten sogar Erfolg gehabt, aber war da nicht mehr? Luisa hatte Recht, es steckte viel mehr in der Sache, als sie bisher herausgefunden hatten. Vor allem irritierte ihn diese Fremdartigkeit.

Ihm fiel ein, dass viele kleine Details des Buches und des Erlebten sich irgendwie komisch angefühlt hatten. Wie wenn es nicht von dieser Welt war. Dass da was war, was er und Luisa bisher nicht kannten. Die beiden Männer sahen anders aus, der Berg und die Umgebung kam ihm anders vor. Nichts, was er hier in seiner Heimat schon mal gesehen hatte. Er überlegte fieberhaft. Was könnte Ihnen eine Hilfe sein, um hinter diese Ungereimtheiten zu kommen?

“Simon, dein Ranzen fehlt noch!” rief seine Mutter durch den Flur. Mist, hätte er vor lauter Turnbeutel suchen doch glatt vergessen, den Ranzen mitzunehmen. Er schnappte das Ding im Vorbeifliegen, als er drei Stufen auf einmal die Treppe runtersprang und schwang sich den Ranzen auf den Rücken. Kurz neben der Haustüre stand Song, sein Kumpel aus der Klasse, mit dem er morgens meistens den Schulweg zusammen mit dem Roller fuhr. “Hab deinen Roller mitgebracht, du hast ihn vorgestern bei mir stehen lassen.” grinste Song ihn an. “Krass, Song, danke. Hab ich total vergessen! Lass uns reinhauen, wir sind spät.” Und ab ging es.

Song war echt ein guter Kumpel. Er war total zuverlässig und hatte Simon schon öfters mal gerettet, weil er wieder etwas vergessen hatte. Geodreieck in Mathe, Hausaufgaben in Sachkunde, die Turnhose aus der Umkleide, Rollerschloss, was auch immer. Irgendwie hatte Song einen siebten Sinn und packte die Sachen ein, die Simon vergaß. Mehr als einmal war das echt die Rettung gewesen: sein Freund Song und sein Sachen-Speicher.

“Simon, was machst’n heute nach der Schule?” fragte Song nebenher. Sie rasten den schmalen Weg runter und wer zuerst vor der Straße bremste, hatte verloren. Also am Schluss voll auf die Bremse steigen. “Hm, weiß noch nich. Hast du ‘nen Vorschlag?” gab Simon zurück, als sie mit heißen Reifen an der Straße standen und die Autos vorbeiziehen ließen. “Bei uns gibt’s Banh Xeo, hast du Lust?”

Songs Familie kam aus Vietnam. Er hatte viele Geschwister und seine Eltern arbeiteten fast immer. Weil Song der Älteste war und weil seine Mutter mittags nie rechtzeitig Schluss machen konnte, hatte Song schon in der Grundschule begonnen, für die Geschwister Mittagessen zu kochen. Das war in seiner Familie total selbstverständlich. Jedes Kind hatte seine feste Aufgabe und musste sich darum kümmern, etwas für die Familie zu tun. “Irgendwie sind sie das gewohnt, gehört wohl zu ihrer Kultur”, dachte Simon und etwas klingelte in seinem Hinterkopf. Leider zu leise.


In der großen Pause saßen sie zusammen draußen und mampften ihr Vesper. Song hatte lustige kleine Teigtäschchen dabei, die er auf einmal in den Mund steckte. “Was ist das?” fragte Noushin, die sich auch zu ihnen gesetzt hatte. “Nichtf befonderef, nur fo gedämpftef Gemüfe” entgegnete Song undeutlich, weil der Mund so voll war. “Darf ich mal probieren?” fragte Noushin interessiert. “Oh, lieber nicht, die sind ziemlich scharf.” meinte Simon, denn er wusste, dass Songs Familie gerne scharf aß. Als er vor einiger Zeit schon einmal bei ihnen zum Essen eingeladen war, hatten sie für ihn “extra ohne” gekocht und es war trotzdem so scharf gewesen, dass er heiß und schwitzig geworden war. Und der Mund hatte gebrannt!

“Erzähl mir nix von scharf!” lachte Noushin. “Mein Papa zieht Chilischoten auf dem Balkon für unser eigenes Harissa.” Song und Simon schauten verständnislos. “Das ist eine spezielle Chillipaste zum Essen. Schmeckt super zu Lamm.” erklärte sie.

Simons Blick fiel auf ihre Vesperdose. Sie war über und über verziert und hatte kleine regelmässige schwarze Striche, die am Rand ein Muster bildeten. Irgendetwas klingelte schon wieder in seinem Hinterkopf. Nur, wenn man Hunger hat und noch Brot übrig war und gleich die Pausenglocke läuten würde, dann hatte man keine Aufmerksamkeit für die kleinen Glöckchen im eigenen Hinterkopf.

Luisa kam vorbei. Ein spezieller Handschlag und ein tiefer Blick in die Augen und ein hochgezogener Mundwinkel. Sofort waren sie für ein paar Augenblicke wieder bei ihrem gemeinsamen Abenteuer von vorletzter Nacht. “Ich muss dir was erzählen. Ich hab nachgedacht. Wir brauchen Hilfe.” raunte er Luisa zu. Sie sah ihn an, kniff erst die Augenbrauen zusammen und wollte gerade den Kopf schütteln. Dann überlegte sie es sich anders und zischte “Lass uns auf jeden Fall nichts verraten! Niemandem!”

Geschichte war mal wieder unglaublich langweilig. Irgendwelche Könige in irgendeinem Mittelalter und wann die gegen irgendwelche anderen Könige gekämpft hatten. Mehr als 500 Jahre war das nun her und er fragte sich immer, wen das heute noch interessierte. Er schlief fast ein.

Song krakelte irgendwas auf ein Blatt während er seinen Kopf auf die Hand stützte. Komische Zeichen. Wie der immer auf sowas kommt? Als er das Zeichen genauer betrachtete - das Mittelalter konnte ihm gestohlen bleiben - klingelte es plötzlich ganz laut in seinem Hinterkopf.

“Was machst du da? Was sind das für Bilder?” flüsterte er vorsichtig zu Song hinüber. “Hä? Das sind kein Bilder, das ist vietnamesisch.” flüsterte Song zurück.

Plötzlich machte es “Klack” in seinem Kopf: die Lösung! Song war mal wieder seine Rettung.