“Findet ihr auch, dass es ziemlich laut ist inzwischen ? Ich habe das Gefühl, da könnte weiter oben ein Wasserfall sein”, schnaufte Song.
“Leute, ich brauch bald eine Pause”, bemerkte Luisa.
“Lass uns noch ein Stück weitergehen, Luisa”, schlug Simon vor.
“Dieser Wasserfall scheint ganz nah zu sein, so laut wie es inzwischen ist. Dort könnten wir doch ein bisschen rasten und überlegen wie es weitergeht.”
Simon schien der lange Marsch nichts auszumachen.
“Kein Wunder, so oft wie du mit deinem Leichtathletik-Team trainierst! Da ist das hier ja ein Spaziergang für dich!”, stöhnte Luisa.
“Andere haben etwas gemütlichere Hobbies! Zu denen gehöre ich nämlich”, stichelte sie weiter.
“Da siehst du mal! Würdest du ab und zu mit mir mitkommen, wenn ich joggen gehe, dann...”, entgegnete ihr Simon grinsend. Auch Song musste schmunzeln. Das war ständig ein Thema zwischen den beiden. In allem anderem tickten sie gleich, aber für das Laufen hatte Luisa nichts übrig. Zwar ging sie mit auf die Wettkämpfe von Simon und feuerte ihn an. Aber bei seinen langen Trainingsrunden mit zu laufen, kam für sie nicht in Frage. Da verkroch sie sich lieber in ihre gemütliche Lesecke im Zimmer und sass Simons läuferische Eskapaden aus.
“Hmpfff... dann geht mal wenigstens ein bisschen langsamer”, sagte sie zu den Jungs.
Bald lichteten sich die Bäume und sie staunten nicht schlecht, als sie einen riesigen Wasserfall vor sich erblickten. Die Lichtung um den Wasserfall war groß und hell. Der Boden war bedeckt von sattgrünem Gras und die Wiese war über und über bedeckt mir den schönsten Blumen.
Der Wasserfall war ein ganzes Stück von ihnen entfernt. Das Wasser fiel mindestens fünf Meter von den Felsen herab und bildete einen dichten, spritzenden Vorhang. Unten im Teich breitete sich das Wasser großflächig aus und wurde schnell ruhiger. Auf der Seite wo sie standen, war das Wasser ganz friedlich und ohne große Strömung. Fast wie an einem grossen See. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser und lud zu einer Abkühlung ein.
“Schaut mal, ich kann sogar einen Regenbogen am Wasserfall sehen”, seufzte Luisa und liess sich erschöpft ins Gras fallen. Song entdeckte in der Nähe Quellwasser, das zum Wasserfall herunter floss. Simon schnappte sich die inzwischen leere Trinkflasche aus Luisas Rucksack und füllte sie an der Quelle auf. Gierig tranken sie abwechselnd daraus. Nach ihrem langen und anstrengenden Marsch konnten sie jetzt alle eine kleine Pause und Stärkung gebrauchen, fand Luisa. Sie packte ihre Vesperdose aus und verteilte den Inhalt gerecht. Während sie die Butterbrote mampften, schauten sie sich satt an ihrer malerischen Umgebung. Es war wirklich wunderschön hier. Komisch war auch hier, dass es ausser dem Rauschen des Wassers keine sonstigen Geräusche gab. Wenn sie sich zurück erinnerte, fiel Luisa auf, dass sie auch keine Tiere gesehen hatten. Sie hatten unterwegs zwar jede Menge Insekten gesehen und vom Gesicht weggewedelt, aber tatsächlich keine Tiere bemerkt. Nicht mal so etwas Kleines, wie ein Eichhörnchen.
“Seltsam”, dachte Luisa und erzählte den anderen von ihrem Gedanken.
Simon sagte: “Das Wasser hätten wir gefunden! Aber was sollte das Zeichen mit dem Drachen?”
“Wir sind an keinem Gebilde vorbeigekommen, das einem Drachen irgendwie ähnlich sah”, warf Song ein.
“Vielleicht sind wir den falschen Weg gelaufen und haben es verpasst”, meinte Luisa.
Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatten, fühlten sich die drei schon wesentlich fitter. Voller Tatendrang sprang Simon als erster auf und rief: “Kommt! Lasst uns hier ein bisschen umschauen. Vielleicht finden wir was, das uns zeigt, wohin wir gehen müssen, um zur Drachenformation zu kommen.”
Sie machten sich auf und erkundeten die Lichtung.
“Song, Luisa, kommt mal her!”, rief Simon auf einmal. Simon stand inmitten der Lichtung. Die Sonne schien ihm auf seinen Kopf. Als Song und Luisa sich ihm näherten, sagte er: “Bleibt mal stehen und schaut hier her. Hier, wo ich stehe, ist das Gras doch ein bisschen anders, oder?” Song und Luisa versuchten, zu verstehen, was Simon meinte.
“Oh ja!” Da sie etwas weiter von Simon zum Stehen gekommen waren, konnten Song und Luisa die leichte Veränderung der Wiese von ihrem Standpunkt erkennen. Das Gras stand etwas tiefer. Die Blumen waren hier spärlicher und die Farbe des Grases war ein bisschen matter. Von der Stelle aus, wo Luisa stand, meinte sie zu erkennen, dass eine breite Spur Richtung Wasserfall führte.
“Schaut mal, da scheint ein Trampelpfad zu sein!”, machte sie die Anderen auf ihre Entdeckung aufmerksam.
Simon und Song sahen nun auch, was sie meinte. Die drei folgten dem vermeintlichen Trampelpfad bis direkt zum Fuss des Wasserfalls. Hier - so nah am Wasserfall - war es schon echt laut. Sie mussten richtig brüllen, um sich zu verständigen. Simon hob seinen Blick vom Boden und schrie: “Luisa, dein Trampelpfad scheint direkt ins Wasser zu führen!”
Luisa folgte mit den Augen dem Trampelpfad bis zum Wasser und hob den Blick. Just in diesem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne, so dass sie nun in mattem Mittagslicht standen. Jetzt, wo die blendende Sonne nicht mehr so grell an den Wassertropfen reflektierte, konnte man den Wasserfall in seiner ganzen Pracht bewundern.
Auf einmal holte Song tief Luft und wirkte stocksteif.
“Luisa, Simon! Schaut mal dort, wo der Trampelpfad ins Wasser mündet. Wenn man von dort aus in einer Linie zum Wasserfall schaut... seht ihr auch, was ich da sehe? Oder bilde ich mir das ein?”
Dort, wo Song hinzeigte, gab es durch einen überhängenden Felsen weiter oben eine kleine Aussparung im Wasservorhang. Genau diese Aussparung meinte Song. Wenn man genau hinschaute, konnte man durch die Stelle sehen, an der kein Wasser fiel.
Hinter dem Wasservorhang schien eine Höhle zu sein.
Ein dunkelgrüner Mantel schlurfte langsam und schwer durch einen dunklen Gang in dem es vollkommen still war. Ein bisschen muffige, trockene Luft füllte den Gang. In keine Richtung konnte man erahnen, wohin es da ging oder wie weit der Gang führen würde. Vom Steinboden hört man bei jedem Schritt einen kleinen Tapser und das Klicken von Krallen. Definitiv ein komisches Wesen, dass in diesem Mantel steckte, aber aufrecht wie ein Mensch ging.
Das Wesen hielt inne und drehte sich der Wand zu. Es überlegte eine Weile und hob dann den Ärmel, aus dem am Ende ein Pranke ragte. Klopf, klopf. Pause. Klopf, klopf, klopf. War da eine Türe? War da überhaupt eine Wand? Man konnte nichts sehen und genau das machte die Szene so seltsam. Da steht ein dunkelgrüner Mantel und eine Pranke klopft irgendwo hin. Auch das Klopfen klang reichlich eigenartig, hohl und hell.
Nach einer gefühlten Ewigkeit machte es “Ritsch!” und warmes Kerzenlicht fiel auf den dunkelgrünen Mantel. Wenn man nicht gesehen hätte, dass da ein Mantel durch den Gang schlurfte, hätte man denken können, jemand zerreisst eine Seite Papier. Aus einem Buch. Wie unwirklich.
“Leonidas! Welche Überraschung. Was führt dich zu dieser Zeit auf meine Seite des Buches?” sagte eine kleine Stimme erfreut. Der dunkelgrüne Mantel trat durch die Öffnung in eine kleine Kammer, in der ein sehr grosser Sack aus Leinen mitten im Raum lag, ein kleiner steinerner Ofen mit brennenden Holzscheiten flackerte und ein paar abgewetzte Kissen in einer Ecke um ein kleines Tischchen herum lagen.
“Ich sehe, du hast etwas auf dem Herzen. Wollen wir hier sprechen oder lassen wir uns die Sonne der Savanne auf den Pelz brennen, während ich dir zuhöre?” fragte die kleine Stimme. Jetzt sah man auch das Wesen, der sie gehörte: einer Maus. Einer mittelgrossen, dunkelbraunen Maus, die aufrecht im Raum stand und ein weisses Gewand trug. Sie hatte einen breiten Schnauzbart und viele hellgraue Haare in ihrem eigentlich dunkelbraunen Fell. Sie sah freundlich aus, breitete ihre Arme und Vorderpfoten aus und trat einen Schritt zur Seite.
“Lass uns die nächste Seite nehmen, Souris. Danke, dass du Zeit für mich hast.” sagte eine gewaltige, tiefe Stimme. Die Maus ging zum Ofen, zog an einem Stückchen Mauerstein und riss ein rechteckiges Loch... ja, in was eigentlich? Es sah aus, wie wenn sie ein Loch in eine Tapete reissen würde. Auf dem Stück, dass nun umgeklappt neben ihr im Raum stand, brannte der Ofen weiter, wie wenn nichts geschehen wäre. Aus dem türgrossen Loch drangen helle Sonnenstrahlen und man sah karge Büsche und ein wenig vertrocknetes Gras. Der Mantel namens Leonidas und die Maus namens Souris schritten durch die Öffnung und schlossen sie hinter sich.
Sie befanden sich wahrlich in der Savanne! Gleissende Sonne beschien sie und ein sandiger Boden schluckte ihre Schritte. Sie bewegten sich auf eine kleine Gruppe Bäume zu, die Schatten spendeten. Während sie liefen, streifte Leonidas beifällig seinen dunkelgrünen Mantel ab und liess ihn fallen. Darunter kam ein aufrecht gehender, muskulöser Löwe zum Vorschein mit ockerfarbenem Fell, einer wallenden, kräftigen Mähne in blond und einem Schwanz mit schwarzem Puschel am Ende.
Sie hatten die Bäume erreicht und setzten sich auf ein paar Steine gegenüber. Alles geschah langsam und bedächtig.
“Leonidas, wo schmerzt die Pfote? Wie kann ich dir helfen?” fragte die kleine Stimme ernsthaft.
“Ich habe Bedenken, Souris. Dieses Buch ist das Gefängnis für den Wandelgeist, weil er sehr schlimme Dinge mit seiner erstaunlichen Macht getan hat. Hunderte Jahre haben wir ihn hier bewacht. Nie hat es Probleme gegeben. Manchmal ist das Buch in neue Hände gekommen, vor diesem Mal war das aber schon Jahrzehnte her. Das passiert nicht oft. Glücklicherweise”, seufzte der Löwe Leonidas.
“Nun ist nicht nur ein Wesen in das Buch gekommen, sondern zwei und dann drei. Wie soll das weitergehen?”
Souris überlegte einen Augenblick.
Dann sagte er: “Nun, wie wir wissen, ist das Buch ein gutes Gefängnis. Es hat lange schon seine Funktion erfüllt. Der Wandelgeist ist hier sehr gut aufgehoben. Wir haben ihm sogar ein paar Rätsel zur Ablenkung vorgesetzt und die letzten hundert Jahre hat er versucht, diese zu lösen. Es ist ihm nicht gelungen, aber er war beschäftigt.”
“Ja, Souris, das stimmt. Aber jetzt kommen diese jungen Wesen und lösen die Rätsel plötzlich. Ich spüre, wie der Wandelgeist Kraft schöpft, wie er versucht, die jungen Wesen zu manipulieren und seine Macht wieder einzusetzen. Es macht mir Sorgen. Auch wenn wir den Ring am Schluss als letzte Sicherung vorgesehen haben, so habe ich langsam Zweifel, ob unser Plan wirklich wasserdicht ist und hält.”
Sie schwiegen beide lange.
Dann erhob sich Souris und sprach feierlich: “Ein jeder von uns ist als Wächter bestimmt. Deine Sorgen ehren dich, Leonidas. Ich werde sie der Regenbogen-Schlange vortragen. Sie ist die Hüterin über die Träume und weiss stets, was zu tun ist.”
“Danke, Souris. Lass uns noch ein Stückchen gehen...” Mit diesen Worten erhob sich der Löwe und beide gingen langsam in Richtung der Sonne einem kleinen Hügel entgegen.
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Dieses Kapitel wurde von Tania geschrieben und am Montag, 12. Dezember 2022, 03:26 Uhr veröffentlicht. Es enthält 1760 Worte.
Alle Kapitel bis hier
- Kiran und das Buch der Wächter
- Kapitel 01 - In dem ein Buch versteckt und viel Staub aufgewirbelt wird
- Kapitel 02 - In dem ein mysteriöses Buch aufgeschlagen wird
- Kapitel 03 - In dem ein seltsamer Traum geträumt wird
- Kapitel 04 - In dem bei dem Buch übernachtet wird
- Kapitel 05 - In dem von einem mächtigen Unbekannten erfahren wird
- Kapitel 06 - In dem das Rätsel offenbar und ein Berg bestiegen wird
- Kapitel 07 - In dem Naturgewalten besiegt werden
- Kapitel 08 - In dem scharf gegessen und fremde Schriften geschrieben werden
- Kapitel 09 - In dem Hilfe und der Schlüssel zu einem Keller gefunden wird
- Kapitel 10 - In dem gemeinsam geschlafen und im Dschungel aufgewacht wird
- Kapitel 11 - In dem neue Zeichen entziffert werden
Du kannst die Geschichte fortsetzen und dein eigenes Kapitel schreiben.
Zuerst schreibst du einen Satz, der als Appetitanreger für ein Weiterlesen unter dem letzten Kapitel angezeigt wird.