Kapitel 15 - In dem zusammen Unmögliches möglich gemacht wird

Oh nein, der Drache rührte sich!
Ein tiefes, missmutiges Brummen erfüllte die Höhle, während Luisa, Simon und Song erschrocken zum Drachen schauten. Das Auge des Drachen, das sie sehen konnten, öffnete sich und sein Blick wanderte durch die Höhle, bis er sie erblickte. Luisa zwang sich, weiter zu atmen und konnte ihren Blick nicht von dem tiefgrünen Auge des Drachen wenden. Der Drache richtete sich grummelnd auf und hob den Kopf, so dass er die Kinder mit beiden Augen gut im Blick hatte. Die Augen des Drachen erinnerten Luisa an Krokodilsaugen. Die Pupillen waren nicht rund sondern zu Schlitzen verengt und sahen allein schon deshalb furchteinflössend aus.

“Wer wagt es, mich während meines Schlafes zu stören?”, donnerte es durch die Höhle.

Die drei schauten sich verdattert an. Luisa begriff auch ohne Worte, dass sie sich gerade fragten: “Hören wir etwa den Drachen sprechen?”
“Im Wald weiß jeder, dass ich es hasse, wenn mein Schlaf gestört wird! Ihr müsst zu den nervigen Tölpeln gehören, die auf der Suche nach dem Stein der Weisheit sind. Verschwindet hier, sonst bekommt ihr mein Feuer zu spüren! Das sage ich nur, weil ihr Kinder seid. Sonst wäre es schon um euch geschehen”, spie der Drache, der sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte. Er sah in der Tat furchterregend aus.

Simon und Song lösten sich aus ihrer Erstarrung und wichen zurück. Beide zogen an Luisas Händen, die nun ihrerseits regungslos da stand, und bedeuteten ihr wortlos schleunigst den Rückzug anzutreten. Luisa starrte gebannt in die Augen des Drachen und war auf eine sonderbare Weise fasziniert von diesem furchterregenden Geschöpf. In ihrem Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Plötzlich begriff sie die Worte des Drachen: “ Verschwindet hier...”, hatte der Drache gesagt, “...sonst kriegt ihr mein Feuer zu spüren!”, und “...weil ihr Kinder seid.”

Ihre Gedanken rasten: ”Heißt es etwa, dass er ihnen die Chance geben will zu flüchten, ohne dass Ihnen was passiert? Weil er Kindern nicht weh tun will..?” Sie musste unwillkürlich an ihren stillen Zuhörer aus der Welt des Sternenzeltes denken. Der war ja gefangen und brauchte Hilfe. Er brauchte die Steine um freizukommen. Und der Drache, hatte der nicht gerade was von Suchenden nach dem Stein gesagt? Der wusste also von dem Stein der Weisheit. Wenn sie jetzt kehrt machten und wegliefen, würden sie in dieser Welt nie einen Hinweis auf den Stein bekommen. Das Rätsel hatte sie ja zum Drache geschickt! Sie vertraute auf ihr Bauchgefühl und hoffte, dass der gute Wille des Drachen für die nächsten Minuten noch anhielt. Luisa nahm ihren Mut zusammen und fragte: “Es tut uns echt leid, dass wir dich aufgeweckt haben. Wir verschwinden sofort. Würdest du uns vorher noch einen Tipp geben, wo wir den Stein der Weisheit finden?”

Simon und Song erstarrten hinter ihr erneut. Sie konnten nicht fassen, dass Luisa es wagte, eine Frage an den offensichtlich mordlustigen Drachen zu richten. Man konnte förmlich spüren, wie die Stimmung des Drache von genervt auf wütend umschlug. Der riesige Kopf des Drachen senkte sich ein wenig und die unheimlichen Augen des Drachen fokussierten Luisa: “Wie töricht bist du, Kind? Du denkst, dass du und deine Freunde des Steines würdig sind? Es ist schon lange her, dass ein Suchender mich gefunden hat. Allein die Tatsache, dass ihr es geschafft habt, mich zu finden und dein dummer Mut, mich zu fragen, nur das lässt euch gerade noch am Leben! Wieso sollte ich nicht ein wenig Spaß mit euch haben, bevor ich euch auf die eine oder andere Weise loswerde?” sagte der Drache unheilverkündend. “Denn ich sterbe hier fast vor Langeweile. Nicht mal die Sonnenstunden vor dem Wasserfall sind mir noch vergönnt. Ganz zu schweigen von dem Genuss, endlich wieder eine Runde zu fliegen!

In Luisas Kopf fügten sich ein paar Puzzleteile zusammen. Der Trampelpfad, den sie entdeckt hatten, war tatsächlich vom Drachen, der sich zum Sonnen in die Mitte der Lichtung begeben hatte! Von dort hob er auch ab und startete seine Flüge. Daher gab es sonst keine Spuren in der Umgebung. Alle Bewohner des Waldes wussten über den Drachen und seinen Drang nach Ruhe. Keiner der Waldbewohner wollte den Zorn des Drachen auf sich ziehen. Daher also diese unheimliche Stille.

Aus irgendeinem Grund war der Drache also nicht in der Lage, nach draußen zu kommen. Was hinderte ihn daran? Und was wollte er mit Ihnen anstellen, um sich seine Langeweile zu vertreiben? Diese Gedanken flogen durch Luisas Kopf.

Plötzliche streckte der Drache seinen langen Hals aus und griff mit seinen Zähnen nach Song und Simon, die dicht beieinander standen. Er erwischte Song an seinem Kapuzenpulli und Simon an dem Rucksack, den er Luisa vorher abgenommen hatte. Der Drache hob die beiden mit einem Ruck hoch, bog seinen Hals und ließ sie auf der anderen Seite des Sees neben sich plumpsen. Song und Simon kauerten sich zusammen und waren ganz fahl im Gesicht. Luisa wurden die Knie weich und das Herz rutschte ihr in die Hose.

Um zu Ihnen zu gelangen müsste sie den See überqueren. Bis sie das schaffen würde, hätte der Drache jede Menge Zeit, alles Mögliche mit den Jungs anzustellen. Der Drache schien sich über die Angst der drei zu amüsieren und sagte: “Dann zeigt mal, wie würdig ihr seid!” Er grinste boshaft.
“Wenn du es schaffst, zu deinen Freunden zu kommen, ohne von mir erwischt zu werden, kommt ihr mit eurem Leben davon!”, sagte der Drache schneidend.

Luisa brach der Schweiß aus. Was hatte sie nur geritten, den Drache zu reizen? Sie hätten einfach verschwinden sollen. Nein, nein, nein... Song und Simon darf nichts passieren. Sie würde sich das nie verzeihen. In Ihrer Verzweiflung wandte sie sich an das Buch oder ihren stillen Zuhörer oder wen auch sonst und murmelte eindringlich: “Wer auch immer du bist und wo auch immer du bist, bitte hilf mir!”

Plötzlich spürte sie einen Windhauch von hinten und neben ihr landete auf leisen Tatzen ein großer Tiger. Erschrocken wich Luisa zur Seite und blickte zum Tiger. Noch bevor sie seine beeindruckende Größe so nah bei sich wahr nahm, fielen ihr seine Augen auf. Sie waren goldbraun und schauten sie mit wachem Blick an. Sie kannte diese Augen und irgendwie hatten diese Augen etwas Beruhigendes für sie. Der Tiger blickte auf die andere Seite des Sees und fauchte den Drachen ungehalten an. Wenn die Situation nicht schon durch den Drache und Song und Simons “Entführung” so beängstigend gewesen wäre, hätte sie das Fauchen des Tigers neben ihr vollends in Panik ausbrechen lassen. Nein! Sie durfte nicht panisch werden. Simon und Song brauchten sie, sagte sie sich. Mit dem sonderbaren Tiger an ihrer Seite fühlte sie sich nicht mehr so schwach und allein. Der Drache musterte den Neuankömmling gelangweilt und wartete ab.

Der Tiger blickte kurz zu ihr und gleichzeitig hörte sie in ihrem Kopf eine Stimme. “Geh’ zu deinen Freunden. Ich lenke den Drachen ab!” Luisa hatte gar keine Zeit, über die Stimme nachzudenken. Es gab keine andere Möglichkeit, als die angebotene Hilfe anzunehmen. Sie sammelte sich und dachte kurz nach. “Warte!”, wandte sie sich an den Drachen und zog blitzschnell ihre Schuhe und den Pullover aus.
“Die sind im Wasser eher hinderlich”, dachte sie sich. Dann murmelte sie leise, in der Hoffnung, dass nur der Tiger es hören konnte: “Auf drei... Eins, zwei, drei!”

Mit einem Riesensatz machte sie einen Köpfer ins Wasser und nutzte den Schwung bis zuletzt aus. Dann tauchte sie mit kräftigen Zügen soweit sie konnte in Richtung ihrer Freunde. Sie war eine gute Schwimmerin. Sie gab alles was sie noch an Kraftreserven hatte und vertraute darauf, dass der Tiger sein Wort hielt und den Drache ablenkte. Ungefähr in der Mitte des Sees musste sie kurz auftauchen, um Luft zu holen. Sie schätzte die Entfernung zu ihren Freunden ab und beschloss weiter zu tauchen, um kein leichtes Ziel zu bieten, falls der Drache eingreifen wollte. Mit etwas Glück würde sie es ans andere Ufer schaffen, ohne nochmals Luft holen zu müssen. Bevor sie abtauchte, nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, dass der Tiger bereits auf der anderen Seite des Ufers beim Drachen war. Der Drache war vollauf damit beschäftigt die Angriffe des Tigers abzuwehren. Währenddessen war sie ans Ufer geschwommen, rannte auf ihre Freunde zu und umarmte beide. Mit einem Mal stand der Tiger bei ihnen. Er schien abwartend zum Drachen zu schauen. Würde der Drache sein Wort halten und sie gehen lassen? Luisa hatte es tatsächlich bis zu ihren Freunden geschafft, ohne vom Drachen erwischt zu werden.

Alle drei hatten sie keine Ahnung, wie der Tiger, der eben noch am Kopf des Drachen war und ihn tatsächlich im Sprung mit den scharfen Krallen an der Nase erwischt hatte, plötzlich neben ihnen stand. Der Drache schüttelte seinen mächtigen Kopf und gelbes Blut tropfte ihm von den tiefen Kratzern an der Nase. Blind vor Wut machte er sein Maul weit auf, um höchstwahrscheinlich Drachenfeuer auf sie niederprasseln zu lassen.

Die Reaktion des Tigers war jedoch schneller. Er zwängte sich zwischen die drei, so dass er jeden von ihnen berühren konnte. Im selben Moment spürte Luisa ein Kribbeln am ganzen Körper. Dann waren sie draußen. Draußen vor der Höhle, am Wasserfall in der Lichtung.

Rettung in letzter Sekunde.

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