Eine Geschichte in 19 Kapiteln

Kapitel 18 - In dem Superhirne Sprachen erkennen

Nach dem Abenteuer mit der Drachenmutter wachte Simon auf und rieb sich die Augen. Er sah Lusia und Song an. Sie schliefen noch, jeweils eine Hand auf dem Buch. Gut, dass sie die kleine Dose mit dem ersten Stein dabei hatten. Er war so gespannt, denn im Traum hatte er keine Gelegenheit gehabt, den Stein des Drachen überhaupt einmal anzuschauen. Er war immer noch ziemlich aufgeregt von dem Erlebnis mit dem Drachen. Ein Wahnsinns-Abenteuer!

“Luisa, Song, wacht auf!” sagte er und stupste sie beide an. Sie schlugen verschlafen die Augen auf und brauchten ein paar Sekunden, bis sie ihn erkannten. Luisa murmelte dann verschlafen, aber freudestrahlend: “Mensch, wir haben den zweiten Stein!”

Ein kleiner, durchsichtiger, grüner Stein, genauso seltsam geformt wie der erste und viel schwerer, als seine Größe vermuten ließ. Sie holten den ersten Stein aus seiner Dose und wollten ihn betrachten. Die Form war sehr ähnlich, die Farbe aber ganz anders. Die Kerben und Vertiefungen sahen wirklich seltsam aus.

Simon fasste sich ans Ohr.
“Schaut mal! Diese Grube hier passt zu dieser Ecke am anderen Stein. Probier mal, ob man sie da zusammen setzen kann”, sagte er nachdenklich. Mit spitzen Fingern drehte Luisa die Steine und versuchte, sie irgendwie passend zusammen zu setzen. Song sah gebannt zu.

Plötzlich machte es ‘Klick’ und auf den letzten Millimetern zogen sich die Steine gegenseitig an, wie wenn sie magnetisch wären. Ein farbiger Blitz aus grünem und rotem Licht erhellte das Zimmer in der Morgendämmerung.

“Wow!” Luisa war begeistert.
“Aber echt!” Auch Song stimmte zu.
“Das sieht aus, wie wenn da nochmals einer reinpassen würde...”, meinte Simon.
“Das Rätsel ist wohl noch nicht zu Ende...”, murmelte Luisa.


Zu Ende war es noch lange nicht, als ein paar Tage später eine lustige Stimme mit französischem Akzept zu vernehmen war.
“ ‘annes, du müscht disch bö-eilen. Dein Voiture is gleisch hier!”, rief Merle durch den Flur.

Leicht gesagt, meine Liebe, dachte sich Hannes. Du musst ja auch nicht deinen Ranzen vom Fussboden angeln, während du mit Jacke anziehen im Rolli kämpfst. Hannes schnitt eine elegante Kurve vor der großen Eingangstür, rief: “Alles gut, je suis en route!” nach hinten zu dem Aupair-Mädchen Merle, das seine Eltern vor ein paar Wochen in der kleinen Wohnung auf dem Dach einquartiert hatten, um es ihm leichter zu machen und patschte auf den elektrischen Türöffner.

“Gudän Morgän, Channes!”, rief Noushins Vater Tarik aus dem Taxi, das eben ankam. Kaum hatte er gebremst, glitt Noushin von der Rückbank durch die sich öffnende Türe und rannte den Rolliweg hoch, ihm entgegen. Hannes musste ziemlich bremsen, weil sie so ungestüm und schnell auf ihn zu kam.

“Morgen, Noushin, cool, dass du kommst. Musst mir unbedingt erzählen, was das heute Nacht war. Aber besser erst, wenn dein Paps uns abgesetzt hat, oder?”, sagte er leise, als Noushin bei ihm oben stand. Sie nickte, Hannes ließ den Rolli hinunter gleiten und bremste neben der Taxitür. Ein kräftiger Stoss mit beiden Armen, ein kurzes Ächzen und er war schon dreiviertel im Sitz. Vor nicht allzu langer Zeit war das noch viel schwieriger gewesen. Nach seinem Unfall hatte er monatelang gar keinen Mut mehr gehabt und dann war mühsames Training angesagt. Alles plötzlich nur noch mit den viel zu schwachen Armen machen? Er zog sich vollends rein, Tarik hatte den Rolli mit einem geübten Griff zusammen geklappt und packte ihn in den Kofferraum. Keine 4 Minuten später waren sie schon unterwegs. Inzwischen klappte das doch einiges besser, als am Anfang.


Tarik wusste genau, wo er wegen den allmorgendlichen Staus in der Stadt nicht entlang fahren durfte. Alle Leute fuhren immer mit dem Auto, also war alles voll. Tarik und sein Taxi schlängelten sich geschickt durch den Verkehr und als Krankentransport durften sie auch die Busspur benutzen. Deswegen waren sie wie immer mit viel Vorsprung an der Schule und genauso schnell saß Hannes auch wieder im Rolli, mit beiden Ranzen auf den Knien. Noushin schob ihn seitlich an der Schule die lange Rampe hinauf. Auf der Hälfte kamen sie an einem Gebüsch vorbei und waren von nirgendwo zu sehen. Selbst im Winter waren die Blätter hier so dicht, dass man nur nach hinten und vorne schauen konnte. Hannes war der einzige Rollifahrer an der Schule, von daher waren sie sicher und allein.

“Du hast nicht gut geschlafen, oder?”, fragte Hannes und kniff ein Auge zusammen, als er Noushin ansah.
“Nein. Ich weiß auch nicht, was los war. Diese komischen Zeichen haben mich nicht mehr losgelassen. Es sind irgendwie nur Fetzen oder Wörter und ich hab keine Ahnung, was das soll.”
“Ich habe ein paar davon auch übersetzt. Wir müssen’s zusammen versuchen. Sonst mach ich zu viele Fehler. Hieß das erste Zeichen Flugzeug?”, fragte er kritisch.
“Flugzeug!?! Hahaha...”, lachte Noushin.
“Nein, das heisst Drache. Der ist aber auch ein Flugzeug.” Jetzt musste Hannes lachen.

“Ein paar von den Sachen sahen überhaupt nicht nach Farsi aus, finde ich”, gab Hannes zu Bedenken.
“Nein, und das wundert mich am meisten. Hab sie genau gesehen und konnte sie auf Aylas Handy nachzeichnen, aber ich hab total keine Ahnung, was die bedeuten”, rief Noushin empört. Wie wenn sie sauer auf ihren eigenen Traum wäre, weil da eben keine Anleitung dabei war. Hannes sah ihre Augen funkeln. Es schoss ihm wieder durch den Kopf, wie sehr er sie mochte und für ihre wilde Kraft bewunderte.

“Hannes! Du guckst Löcher in die Luft!”, stupste sie ihn lächelnd an.
“Was machen wir jetzt?” Sie legte ihre Stirn in Falten und kickte einen winzigen Stein beiseite.
“Ich hab ‘ne Idee! Du weisst doch, dass ich so ein paar krasse Typen kenne. Dieser Club...”, fing er an.
“Willst du denn dieser eingebildeten Charlotte mein Geheimnis anvertrauen!?!”, rief Noushin empört.
“Aber warte doch mal, Noushin. Wir brauchen Hilfe und ausserdem ist da ja nicht nur Charlotte, sondern noch ein paar mehr. Wir müssen auch nichts von dir erzählen und den Traum können wir auch komplett weglassen.” Noushin sagte nichts.


Hannes hatte Noushin überzeugen können. Er hatte ja die Zeichen von Noushins Traum auf dem Handy. Also hatten sie sich eine kleine Notlüge ausgedacht, um zu erklären, woher die Zeichen stammten. Hannes hatte Noushins Fingerskizze an seinen Geheimclub der Superhirne geschickt und um einen Rat gebeten. Immerhin waren die anderen 5 in dem Club teilweise einiges älter als er und mindestens genauso schlau. Und der Vater von einem der Mitglieder war sogar Sprachforscher. Der hatte schon ägyptische Pyramiden von innen gesehen. Etwas, das sich auch Hannes heiss und innig wünschte. Nur war das leider unerreichbar weit weg. Im Inneren von Pyramiden gab es auch keine Rolli-Rampen.

Im Kunstunterricht war wieder freie Arbeit angesagt. Die Lehrerin hatte schon letztes Mal eine Aufgabe gestellt und war heute nur ab und zu im Malzimmer. Prima Gelegenheit, den Pinsel in die Luft zu halten, wie ein Künstler zu gucken und dabei heimlich über was ganz anderes nachzudenken.

Hannes bemerkte, dass Song und Luisa auch gar nicht so richtig bei der Sache waren, sondern die ganze Zeit miteinander tuschelten, immer wieder Skizzen auf winzige Zettel malten und sie dann nach kurzer Diskussion sorgfältig zerknüllt und in die Tasche steckten. Seltsam. Nicht nur er und Noushin hatten ein Geheimnis, schien es ihm. Für einen winzigen Augenblick dachte er, Song hätte auch was Komisches geträumt und würde es Luisa aufmalen. Da musste er innerlich lachen, so verrückt kam ihm sein Gedanke vor.

Noushin malte Ornamente. Sehr schöne Ornamente, fast so schön, wie sie selbst. Sein Handy brummte und Noushin blickte auf. Sie sah ihm direkt in die Augen. Diese Augen! Ein Schauer lief ihm bis zum Hinterkopf.

“Hannes, dein Handy!”, riss ihn Noushin zurück in die Realität.
“Ist das von deinem Club?”, fragte sie ungeduldig.

Tatsächlich. Von Charlotte, ein paar Sprachnachrichten hintereinander.
Er nickte stumm zu Noushin und deutete nach hinten. Es war der Teil des Malzimmers mit den Regalen. Farbeimer, Papierbögen, Materialien, Staffeleien und der ganze andere Kunst-Krimskrams sammelte sich dort. Zwischen den Regalen würde nicht auffallen, wenn sie beide nach etwas suchten und dabei sein Handy checkten.

“Hi Hannes, it’s me, Charlotte. You’re a crazy fool, boy. What you sent us, is really mind boggling!” Crazy fool, mind boggling? Hoppla.
“Was sagt sie?” Hannes zog eine Augenbraue hoch und sah ratlos zu Noushin. Es war die erste Sprachnachricht und Mist, es war Englisch.
”Irgendwas von Doofi und von unfassbar”, meinte Noushin. Immer, wenn Charlotte aufgeregt war und nicht so richtig weiter wusste, fiel es ihr schwer, deutsch zu sprechen. Dann fiel sie in ihre englische Muttersprache zurück und merkte es meist nicht. Ein Glück, dass Noushin gut Englisch sprach. Sie war vor ihrer Flucht nach Deutschland im englischen Kindergarten in Hamedan gewesen und konnte nicht nur Farsi und inzwischen auch gut Deutsch, sondern auch ganz ordentlich Englisch.

“You were right, the first part is Farsi”, war Charlotte auf seinem Handy zu hören.
“Ich muss kurz mal Pause drücken”, sagte Hannes, “ich versteh ich nur Bahnhof”.
“Charlotte sagt, dass ein Teil auf Farsi ist”, übersetzte Noushin.
“There are words like ‘water’, ‘dragon’, ‘brave’ and ‘clever’ ”, lief die Nachricht weiter und Hannes klickte wieder auf Pause.
“Kennen wir ja schon, Wasser, Drache, mutig und schlau.” Noushin war richtig gut.
“But then there are also ‘wise man’, ‘plate’, ‘friends’ and ‘hands’.” Noushins Augen leuchteten plötzlich.
“Ja, genau! Das waren die anderen Wörter, die auf Farsi waren. Ich habe es nicht so richtig erkannt, aber jetzt wo sie das sagt, erinner ich mich wieder: ‘Weiser Mann’, ‘Platte’, ‘Freunde’ und ‘Hände’ .”
Charlotte wieder: “The rest is even more mysterious. It switches to Vietnamese.” Wie eine Simultanübersetzerin fiel Noushin ein: “Der Rest ist noch mysteriöser. Einige Zeichen müssen wohl auf Vietnamesisch sein.”
“And my father said, some signs urge the reader to offer help to friends because they don’t understand. It’s a kind of a poem!” Noushin kräuselte die Nase und dachte nach.
“Charlottes Papa sagte, dass es eine Art Gedicht sei. Es drängt dazu, Freunden zu helfen, die nicht verstehen.” Hier waren die Sprachnachrichten zu Ende.

Vietnamesisch! Das ist doch Songs Muttersprache!
Unglaublich, hier hing wohl einiges zusammen.
Hannes fühlte, wie er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam.

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