Eine Geschichte in 21 Kapiteln

Kapitel 20 - In dem ein neuer Kamerad gewonnen wird

Nach dem Treffen mit Noushin und Hannes war Luisa nicht mehr zu bremsen. Sie hatte das Gefühl, endlich auf einer heißen Spur zu sein. Nun mussten nur noch die blauen Zeichen aus ihrem Traum entschlüsseln. Schnell trommelte sie auch noch Simon und Song zusammen und sie verabredeten sich in der Bücherei, um gemeinsam ein Plan auszuhecken.

So kam es, dass sie in der Mittagspause zu fünft mit dem Kopf voller Ideen ungestüm in die Schulbibliothek hineinplatzten. Prompt wurden sie von der Aufsicht ermahnt, leise zu sein.

Der Tumult am Eingang der Bibliothek ließ auf der gegenüberliegenden Seite eine Person aufschauen, die bisher über die aufgeschlagenen Bücher gebrütete hatte, die vor ihr aufgeschlagen lagen.

Es war Sunitha, die an ihrem Stammplatz sass. Von hier aus hatte sie einen guten Überblick. Um sie herum standen Bücher über Sagen, alte Zeiten und alte Sprachen. Hier war wenig los. Wenn überhaupt, dann kamen manchmal vereinzelt Schüler vorbei, die ein ganz bestimmtes Buch für ein Referat oder eine Arbeit brauchten. Das kam Sunitha sehr gelegen. So hatte sie ihre Ruhe und konnte ungestört ihre Hausaufgaben erledigen, ihre Bücher lesen und ihren Gedanken nachhängen. Ein weiterer Pluspunkt dieser Ecke war, dass es in diesem Bereich unter der Rubrik ‘alte Sprachen’ auch etliche Bücher in und über Sanskrit gab. Und Sanskrit, die altindische Sprache, die noch heute in Indien als Literatur- und Gelehrtensprache verwendet wird, war Sunithas geheimes Hobby. Umgeben von diesen Büchern, die sie so sehr an ihren Vater erinnerte, fühlte sie sich wohl.

Ihr Vater hatte ihr zum 5. Geburtstag ein Kinderbuch in Sanskrit geschenkt. Daraus hatte er ihr damals regelmäßig vorgelesen und gleich übersetzt, so dass sie die Geschichten auch verstand. Sie hatte sich immer auf diese abendlichen Stunden gefreut, wo sie ihren Vater ganz für sich hatte. Nach seinem Tod vor 3 Jahren hatte sie das Kinderbuch immer wieder am Abend angeschaut. Sie konnte dabei ihren Vater beinahe neben sich spüren, wie er ihr lächelnd die Worte übersetzte. Inzwischen versuchte sie selbst, Bücher auf Sanskrit zu lesen. So hatte sie das Gefühl, dass sie sich die gemeinsame Zeit mit ihrem Vater bewahrte.

Ein Tumult am Eingang der Bibliothek ließ Sunitha aufschauen. Eine Gruppe von Schülern betrat die Schulbibliothek und unterhielt sich dabei angeregt. Die Aufsicht fuhr mahnend dazwischen. Die Gruppe beruhigte sich, setzte sich an einen Tisch und steckte ihre Köpfe zusammen. Sie konnte sie von ihrem Platz aus gut beobachten. Die Kinder, die da miteinander tuschelten, kannte sie. Sie hatte einige Fächer mit ihnen zusammen. Luisa und Simon, die als ‘beste Freunde’ galten, saßen nebeneinander. Neben Simon saß Song, ein guter Freund von Simon. Auf der anderen Seite saß Noushin aus Luisas Klasse und ihr Freund Hannes in seinem Rollstuhl.

Sie waren alle echt nett. Nette Freundinnen und Freunde sollte sie auch haben, meinte ihre Mutter immer. Aber sie fühlte sich wohler, wenn sie die anderen aus der Ferne beobachten konnte. Seitdem sie aus Indien nach Deutschland gekommen waren, hatte sie festgestellt, wie anders sie doch war, verglichen mit den Kindern hier. Sie passte nicht wirklich zu ihnen. Die meisten hatten ganz andere Interessen als sie selbst und sie wusste wirklich nicht, worüber sie sich mit ihnen unterhalten sollte.

Leider hatte sie mit ein paar Kindern in Deutschland auch einige schlechte Erfahrungen gemacht. Kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland vor zwei Jahren wohnte sie mit ihrer Mutter in einem kleinem Ort, in dem es kaum Ausländer gab. An der Schule war sie das einzige Mädchen, das dunkle Haut hatte. Die ersten Monate an der Schule waren schwer für sie. Die anderen Kinder waren sehr abweisend und tuschelten offen über sie. Sie dachten wohl, dass Sunitha ohnehin nichts verstehen würde. Denn sie redete selbst wenig, weil sie Angst hatte, zu viele Fehler zu machen. Durch ihre Deutschstunden, die sie in Indien im Jahr zuvor besucht hatte, konnte Sunitha aber sehr wohl fast alles verstehen.

Einmal ging sie durch die nördliche Eingangstür der Schule und hörte mit, wie sich zwei Mitschüler über ihre Kleidung lustig machten: “Schau dir mal die Schwarze an. Was sind denn das für Klamotten? Sieht aus, als hätte sie keinen Spiegel zu Hause!” Ein anderes Mal wollte sie niemand ins Team wählen, weil sie eine Niete in Basketball war. Wie sollte sie auch gut in Basketball sein, wo sie es doch noch nie gespielt hatte! In Indien hatten sie im Sportunterricht Badminton oder Hockey gespielt. Schwimmen konnte sie gar nicht.

Nach dem Sportunterricht in der Dusche hatte sie mal mitgehört, wie zwei Mädchen sich überlegt haben, ob sie wohl heller werden würde, wenn sie sich ordentlich waschen würde.

So einige Male war sie mit Tränen in den Augen nach Hause gekommen. Ihre Mutter hatte sie stets in den Arm genommen und gesagt: “Da spricht ganz viel Unwissenheit aus den Kindern, Sunitha! Nimm’ es dir nicht zu Herzen. Arbeite hart und du wirst sehen, der Rest wird sich wie von selbst ergeben.”

Vor einem halben Jahr waren sie umgezogen, da ihre Mutter eine neue Stelle angenommen hatte. So kam sie in diese Schule. Hier gab es deutlich mehr Mitschüler aus anderen Ländern.

Allein in der Gruppe, die da unten zusammen saß, waren zwei dabei, denen man ansah, dass sie ausländische Wurzeln hatten. Songs Eltern stammten aus Vietnam und Noushin kam aus dem Iran. So war es hier an der Schule deutlich angenehmer für sie. Dennoch war sie aus Gewohnheit für sich geblieben.

Sie machte ihre Aufgaben und war eine gute Schülerin. Zwischen den Unterrichtsstunden blieb sie für sich und hing in der Schulbibliothek ab. In letzter Zeit kamen ab und zu Mitschüler auf sie zu, die bemerkt hatten, dass sie Mathe gut erklären konnte. Das machte sie dann auch gerne.

Manchmal fragte sie sich schon, wie es denn wäre, wenn sie ein paar gute Freunde hätte. Bisher konnte sie sich jedoch nicht überwinden, auf andere zuzugehen.

Als sie aus ihren Gedanken auftauchte und wieder zur Gruppe rüberschaute, saßen nur noch Hannes und Noushin da. Sie beugten ihre Köpfe über ein großes, grellorangenes Plakat. Daneben lag ein Handy, von dem sie irgend etwas abkopierten. Schließlich rollten sie das Plakat zusammen und verließen die Bücherei. Sunitha schaute auf ihre Uhr. Sie hatte noch 15 Minuten bis der Nachmittagsunterricht begann. Daher packte auch sie ihre Sachen zusammen, schulterte ihren Rucksack und ging Richtung Ausgang.

Als sie aus der Tür der Bücherei hinaustrat und zur Haupttreppe ging, sprang ihr das grellorangene Plakat an der Brüstung der Treppe sofort ins Auge. Sie blieb irritiert stehen... Das hatten Noushin und Hannes doch eben noch bearbeitet? Neugierig blieb sie davor stehen und schaute es genauer an.

Ihr stockte der Atem. Es war ein selbstgemaltes Plakat. Darauf waren mehrere Zeichen in krakeligem Sanskrit, darunter ein Handy mit einer Telefonnummer und ein Rollstuhl mit Fahrer zu sehen. Wenn sie richtig verstand, wollte Hannes kontaktiert werden, falls jemand die Zeichen auf dem Plakat deuten konnte.

Sie schaute sich die krakligen Sanskrit-Zeichen an. Ja, sie konnte die meisten Wörter entziffern. Soweit sie wußte, gab es außer ihr niemanden an der Schule, der sie lesen konnte. Sollte sie sich bei Hannes melden? Sie war schon neugierig, was das Ganze sollte. Vielleicht war es ein Zeichen, dass sie doch mal auf andere Kinder zugehen sollte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihre Eltern das auch so sehen würden.

Sie gab sich einen Ruck und nahm sich vor, Hannes anzurufen.
“Und wenn nichts dabei rauskommt, habe ich wenigstens erfahren, wie Hannes überhaupt an die Schriftzeichen gekommen ist”, dachte sie bei sich.

Sunitha holte ihr altes Handy aus dem Rucksack. Ihrer Mutter war es wichtig, dass sie eines hatte, um sie immer erreichen zu können. Denn bei den Schichtdiensten im Krankenhaus und vielen Überstunden war es wichtig, dass ihre Mutter sie gleich informieren konnte.

Sie tippte die Nummer vom Plakat ab und zögerte im nächsten Moment. Was, wenn es doch nicht Hannes war, der dran ging? Irgendwie war ihr gerade nicht nach Telefonieren. Also tippte sie eine Nachricht.

“Hallo”, tippte sie.
“Ich bin Sunitha. Ich habe das Plakat an der Treppe im Eingangsbereich gesehen. Falls du Fragen zu den Schriftzeichen hast, kann ich dir vielleicht weiterhelfen.”

Nach dem Senden starrte sie noch eine Weile gebannt auf ihr Display. Sie wollte das Handy gerade wegpacken, da blinkte eine Nachrichtenblase mit 3 Punkten. Hannes schrieb wohl gerade seine Antwort

“Hi Sunitha, können wir uns nach der nächsten Stunde treffen? Ich erzähl dir dann, worum es geht. Treffpunkt Plakat?” Sunitha schickte einen Daumen hoch.


Nach der Biostunde war Sunitha pünktlich am Treffpunkt. Ein paar Minuten später ging die Tür des Aufzugs am Fuß der Treppe auf und Hannes rollte geschickt aus der engen Kabine. Sie hatte schon öfter bemerkt, wie flink er inzwischen mit seinem Rolli war. Sie fand es toll, dass er sich trotz seines Handicaps nicht unterkriegen ließ.

“Hey, kennen wir uns nicht aus Gemeinschaftskunde und Englisch?”, begrüßte Hannes sie freudig.
“Ja, stimmt”, antwortete sie und lächelte unsicher zurück.
“Finde ich klasse, dass du dich gemeldet hast!” sagte Hannes mit leuchtenden Augen. “Wir sind in einer ziemlichen Sackgasse mit den Schriftzeichen.”
“Was für Schriftzeichen denn?”, wollte sie wissen.

“Oh, sorry...”, meinte Hannes, “das weisst du ja gar nicht. Lass mich erzählen, worum es geht.” Er holte tief Luft und legte los.
“Luisa, Simon und Song sind da auf etwas gestoßen. Noushin und ich kamen später dazu. Es geht um ein Schriftstück mit verschiedenen Sprachen. Scheint ein Rätsel zu sein. Wir haben festgestellt, dass es einen deutschen und einen vietnamesischen Teil gibt. Noushin konnte auch was auf Farsi entziffern. Aus den restlichen Zeichen sind wir nicht schlau geworden. Deswegen meine Idee mit dem Plakat.”

Sunitha hörte ihm gespannt zu.
“Habt ihr das Rätsel schon lösen können?”
“Einen Teil konnten wir tatsächlich lösen”, antwortete Hannes.
“Kannst du die Zeichen wirklich entziffern? Was ist es denn für eine Sprache? Ist das etwa deine Muttersprache?”, fragte Hannes interessiert.

“Das meiste davon kann ich lesen. Es ist auf Sanskrit. Das ist eine altindische Sprache”, meinte Sunitha.
“Was habt ihr denn bis jetzt schon raus gefunden? Wenn ich weiß, was ihr schon wisst, kann ich es vielleicht besser einordnen. So sind es nur ein paar Wörter, die scheinbar nicht zusammen hängen”, erklärte Sunitha.

“Du wirst es mir nicht glauben!”, platzte daraufhin Hannes heraus.
“Die Pause ist zu kurz, um dir alles zu erzählen. Ich fände es besser, wenn wir es dir gemeinsam erzählen. Wir wollen uns nachher alle bei Simons Cousine treffen. Sie hat einen Raum im Keller, wo wir ganz ungestört sind. Dann erzählen wir dir alles von vorne. Kannst du mitkommen?”

“Ähm... wann wollt ihr euch denn treffen?”, fragte Sunitha zögerlich zurück.
“Und wo wohnt die Cousine von Simon überhaupt?”


Hannes hatte sie eingeweiht. Die Cousine wohnte gleich um die Ecke, ein “Katzensprung”, wie man auf Deutsch sagt. Die Story mit dem Rätsel hatte ihre Neugierde geweckt. Da wollte sie schon irgendwie mitmachen und dabei sein. Sie könnte ihnen die Wörter übersetzen und sich das ganze Rätsel zeigen lassen.

Wie es das Schicksal wollte, hatte ihre Mutter heute Nachtdienst und verließ die Wohnung um 19:30, damit sie rechtzeitig bei der Arbeit war. Sie hatte Hannes zugesagt und er war begeistert, dass sie nun jemanden für die unbekannten Zeichen gefunden hatten.

Hannes hatte sogar was von ‘vereinten Kräften’ und ‘Team’ gesagt. Das hatte sie gefreut und stolz gemacht. Hannes war echt in Ordnung. Das beruhigte sie ein bisschen. Seine Freunde werden es sicher auch sein. Mit diesen Gedanken nahm sie gleich zwei Treppen auf einmal und flitzte zum nächsten Unterricht.

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