Kapitel 19 - In dem es Jemandem die Sprache verschlägt

Nach der Schule ist vor der Schule.
In einem anderen Haus nicht weit entfernt, hörte man eine gute Woche später einen Mann schimpfen: „Luisa, es ist jetzt aber langsam zu viel. Du musst die Schule ernst nehmen, du hast nächste Woche so viel vor. Wie soll das gehen, wenn du ständig wo anders übernachtest? Wir müssen langsam mal wieder in den Rhythmus kommen.“ Ihr Papa war wirklich ungehalten.

In den letzten Tagen hatte Luisa bei Simon übernachtet, bei Simons Kusine mehrmals und war nur selten zu Hause gewesen. Sie wollten unbedingt das Rätsel lösen und es ging und ging nicht voran. Simon war immer noch überzeugt, dass sie es schaffen würden. Song war enttäuscht, dass die letzten Versuche zu nichts geführt hatten und sie selbst war einfach ratlos. Wo auch immer sie es versucht hatten, sie hatten nichts gefunden. Sie waren zu zweit oder zu dritt in verschiedenen Welten gelandet, nie wieder bei der Drachenwelt und nirgends hatten sie Hinweise auf das Rätsel oder die Steine gefunden. Auch der rätselhafte Gestaltwandler, der ihnen schon drei Mal geholfen hatte, war verschwunden. Was sollten sie tun?

Die beiden Steine hatten ihnen mehr oder weniger gezeigt, dass es einen dritten Stein geben würde. Song war der Meinung, dass er der Schlüssel zu allem sein würde und Simon wollte einfach weiter machen, weil es so spannend gewesen war. Wie bei seinen Jogging-Runden war er so in der Sache drin, dass er immer weiter wollte.

Luisa war inzwischen fast verzweifelt. Was sollten sie noch versuchen? Ihr Vater würde sie nicht mehr weg lassen und Song und Simon zu sich nach Hause zum Übernachten zu bringen, das traute sie sich erst recht nicht.
“Wo sollen die beiden denn schlafen?“, würde ihr Vater sicherlich einwenden. Ihr Kinderzimmer war schon für sie und Simon zu eng. Eine weitere Matratze hatte da wirklich keinen Platz. Und zu Simons Kusine Saskia durften sie jetzt wohl auch nicht mehr. Ob sie ihren Vater einweihen sollte? Er würde ihr sicherlich nicht glauben.

„Papa…“, begann sie zögerlich.
„Nicht jetzt, Luisa. Ich muss erst mal den Tisch voll abräumen und die Küche machen. Wenn du hilfst, geht es schneller.“ Ah, wie sie das hasste! Immer, wenn sie etwas von ihren Eltern wollte, kam diese Sache mit dem ‘Hilf’ im Haushalt“. Voll ätzend.

„Schau, ich habe für uns heute dein Lieblingsgericht gekocht: Pfannkuchen mit Pilzen und Petersilie. Jetzt muss ich aufräumen. Du hilfst oder du machst irgendwas anderes, dann hab ich eben erst später für dich Zeit. Deine Entscheidung. Und denk dran: heute müssen noch Haare gewaschen werden. Das hast du versprochen.“ Oh nein, nicht auch noch das!

Luisa fühlte sich ausgeliefert und machtlos. Nur Pflichten, stinklangweilig und ungerecht. Sie prustete verächtlich Richtung Küche und trabte die Treppe hoch. Ihr Vater schimpfte, als er mit dem Fuss an ihren Puppenwagen stieß der neben dem Esstisch stand.

Oben warf sie sich erst mal aufs Bett. So eine Gemeinheit! Niemand tat, was sie sich wünschte. Alle hatten sich gegen sie verschworen. Sie starrte an die Decke.

Da tauchten die Steine in ihren Gedanken auf. Ihr Schimmer in rot und grün färbte die Decke bunt. Sie stellte sich vor, wie es sein würde, den dritten Stein zu finden. Welche Farbe er wohl hatte? Die Gedanken beschwichtigten sie und sie sah wieder klarer. Vielleicht wäre es doch sinnvoll, Papa zu helfen und damit ein bisschen gutes Wetter zu machen. Vielleicht würde es ja nützen, wenn sie sich eine ruhige Minute mit ihm zusammensetzte. Mama war noch bei der Arbeit, sie hatte für ihre Firma eine Konferenz besucht und einen Vortrag gehalten. Also könnte sie mit Papa Video schauen, wenn sie… ja, wenn sie nicht schon ins Bett müsste.

Sie schaute auf die Uhr. Upps, schon so spät. Also, gab sie sich einen Ruck, dann los: helfen, Haare waschen, mit Papa noch was machen. Das ist doch ein Plan, der für den restlichen Abend passt. Sie sprang vom Bett.


„Papa…“, begann sie zögerlich.
„Bist du noch nicht müde?“, fragte ihr Vater, der auf dem Sofa einen Arm um sie gelegt hatte. Nach dem Video hatten sie den Laptop zugeklappt und saßen schweigend auf dem Sofa. Der Film war am Schluss irgendwie traurig gewesen, weil das schöne Abenteuer aus war und sich die Helden dann getrennt hatten. Alle waren in eine andere Richtung auseinander gegangen. Fast hätte sie geweint und auch ihr Papa hatte irgendwie glänzige Augen.

„Neeeiiin“, sagte sie gedehnt. Ihre Gedanken waren zu ihren Freunden zurück gekehrt und die Steine waren ihr wieder eingefallen.
„Ich wollte dich mal was fragen…“, sagte sie langsam und vorsichtig, völlig unsicher, wie sie ihren Vater ins Vertrauen ziehen sollte.

„Lass hören, ich bin ganz Ohr“, sagte ihr Vater leise.
„Ich weiss nicht, wie ich es sagen soll… es ist so… seltsam“, begann sie und machte dann eine Pause.
Stille.

Dann sagte ihr Vater langsam: „Wenn ich damals was ausgefressen hatte, habe ich meiner Mutter, also deiner Oma, immer eine kleine Geschichte erzählt. Irgendwas, was nichts mit mir zu tun hatte, sondern mit einem Freund, der in Schwierigkeiten war. Oma Renate hat dann zugehört und am Schluss gesagt: ‘Wenn ich dein Freund Soundso wäre, dann würde ich über Folgendes nachdenken…’ “, sagte Papa. Und dann erzählte er, dass Luisas Oma prima Ratschläge an Papas erfundenen Freund gegeben hatte.

Sie blieben still auf dem Sofa sitzen und schauten in den dunklen Garten hinaus. Der Rat von ihrem Vater hatte Luisa sehr beeindruckt und sie beschloss, sich auch eine Geschichte über eine Freundin auszudenken und damit ihren Vater um Rat zu fragen. Auf die Schnelle fiel ihr keine ein, aber morgen bestimmt.


In dieser Nacht träumte Luisa unruhig.

Weil sie immer noch keinen Rat wusste, hatte sie das Buch mit ins Bett genommen. In ihrer Verzweiflung wollte sie das Gefühl ihres allerersten Traums nochmal spüren und riskierte, wieder in eine unbekannte Welt zu fallen und auch dort nicht weiter zu wissen. Aber es kam anders.

Sie befand sich im Dunkeln und spürte eine Wiese unter sich. Als sie sich endlich orientieren konnte, schaute sie nach oben. Es war finster und man sah wirklich überhaupt nichts. Erstaunlicherweise hatte sie aber keine Angst als sie so da lag. Nach einer Weile brachen die Wolken auf und sie sah wieder den Sternenhimmel. Sie versuchte, mehr von den Sternen zu erhaschen. Nach und nach verschwanden immer mehr Wolken und gaben mehr Sterne frei.

Und plötzlich fügten sich die Sterne vor ihren Augen zu Schriftzeichen zusammen. Ein ganz leichtes, farbiges Schimmern umfing die Sterne an der Stelle, die sie schon kannte. Die Worte des ersten Rätsels waren klar zu lesen. Dort, wo es grün schimmerte, fand sie Wasser, Drache, mutig und schlau. Sie konnte zwar kein Vietnamesisch, aber sie erkannte die Zeichen wieder, über die sie zu dritt so lange gerätselt hatten. Eine andere Gruppe aus Sternen schimmerte gelb und sah aus wie kleine Wellen mit Punkten oben und unten. Dann gab es eine Gruppe, die ein bisschen anders aussah und bräunlich schimmerte.

Wenn der erste Stein mit dem deutschen Rätsel rot schimmerte und das zweite Rätsel die vier vietnamesischen Zeichen zu einem grünen Stein führte, dann wäre das dritte Rätsel gelb… oder braun? Oder beides? Oder vier Steine? Hm... Auf jeden Fall wurde ihr schlagartig klar, dass sie noch weitere Hilfe brauchen würden. Sie konnte gerade mal deutsch, Song hatte sie schon ein ganzes Stück weiter gebracht. Aber auch das reichte noch nicht.


Vor der Schule lief ihr am nächsten Morgen ihr Freund Simon in die Arme.

„Lusia! Komm mit.“ Er packte sie an der Hand und drängte sie in Richtung des Fahrrad-Unterstands unten am Teich. Dort konnte man sich gut verstecken und niemand von weiter oben aus den Schulzimmern würde sie sehen. Als sie sich verdrückt hatten, holte Simon tief Luft.

„Song hat mir erzählt, dass ihn Hannes ausfragen wollte!”, berichtete er entrüstet.
„Irgendwas mit Schriftzeichen. Song sagt, er hat ihn hingehalten und wollte erst uns zu Hilfe holen.“ Er sah sich hastig um.
„Ich glaube, Hannes ahnt etwas von dem Buch.“

Anstatt Sorgenfalten aufzulegen und mit Simon Pläne zur Abwehr zu schmieden, hellte sich Luisas Miene auf und sie fragte freudig: „was wollte er denn genau wissen?“
„Aber Luisa, das sollte doch total geheim bleiben.“ Simon war perplex.
„Lass uns doch erstmal IHN aushorchen…“, knuffte Lusia ihn verschmitzt in die Seite.


In der großen Pause schlich sich Luisa von hinten an den Rolli von Hannes heran und trompetete dann plötzlich: „Johannes von Weissenfels bitte zum Direktor!“ Worauf sich Hannes umdrehte und ihr direkt ins Gesicht lachte. Das war ihr ‘Running Gag’, ein Spielchen, das sie immer wieder witzig fanden.

„Darf ich dich fahren, Hannes?“, fragte sie gut gelaunt und begann Hannes in Richtung Rektorat zu schieben. Fast immer war diese Durchsage zu hören, bevor Hannes mal wieder eine Urkunde oder eine Belohnung bekommen sollte. Der Direktor ließ es sich nicht nehmen, erst Hannes einzubestellen und dann am Ende der Pause eine kurze Ansprache an alle Schüler zu halten. Er stellte sich dazu oben auf die Treppe, wenn sie von der Pause durch den Haupteingang zurück kamen. ‘Johannes hat dies’ und ‘Johannes konnte das’ und ‘er ist ein Vorbild’ und so weiter.

Als sie im Gang vor dem Rektorat waren, drehte sie den Rolli um und sah Hannes an. Sonst nichts. Kein Wort, sie schaute ihm nur direkt in die Augen.

Hannes schaute erst verdutzt zurück, dann ein bisschen ärgerlich, dann fragend. Plötzlich leuchteten seine Augen und er nestelte hektisch an seiner Hosentasche. Er holte einen gefalteten Zettel heraus und hielt ihn Lusia hin.

Wasser, Drache, mutig, schlau. Die Vietnamesischen Zeichen aus ihrem Rätsel!
Lusia spürte, wie sie rot wurde.
„Wie… woher?…“, stotterte sie.

Hannes grinste triumphierend und in dem Augenblick bog Noushin um die Ecke.
„Er hat sie von mir!“, rief sie und stemmte ihre Fäuste in die Seiten.
„Noushin!“, rief Lusia überrascht und dann stockte sie.

In dem Augenblick sprangen ihre Gedanken durcheinander, wie junge Pferde. Ihr Mund klappte auf, dann wieder zu. Sie schluckte trocken, dann wurde ihr wieder heiß. Die beiden ließen sie nicht aus den Augen und warteten ungeduldig, bis Luisa ihre Fassung wieder fand.

„Du… du… äh“, brabbelte sie, unfähig, einen klaren Satz aus ihren wirren Gedanken zu formen.
„Wo hast du das her? Kannst du das lesen?“, kam schließlich ungläubig aus ihrem Mund.
„Nein, das nicht. Aber das hier!“ Noushin streckte ihr einen Zettel entgegen mit den persischen Zeichen in Farsi von ihrer Zimmerdecke. Plötzlich erinnerte sich Luisa an ihren Traum und die schimmernden gelben Sterne, die sie am Nachthimmel im Buch gesehen hatte.

„Wow!“, sagte Luisa tonlos und ein Schauer lief ihr den Rücken hinauf. Die gelben Zeichen kann Noushin lesen. Jetzt fehlt uns nur noch jemand für die braunen Zeichen. Nur wer?

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