Kapitel 22 - In dem sich eine tiefe Spalte auftut

Die Sonne stand schon hoch am Himmel und es war unglaublich heiß. Hannes trug nur noch die Shorts und hatte das T-Shirt um den Kopf gebunden. Man konnte seine muskulösen Arme sehen, die vom Rolli-Training fast so dick waren wie bei großen Jungs. Song machte die Hitze wenig aus, Simon hatte Schweißperlen auf der Stirn und seine Haare waren ein bisschen feucht. Er hatte sofort nach dem sie im Traum angekommen waren, nach den Steinen in seiner Hosentasche getastet und sie dort erleichtert gefunden. Er hatte schon befürchtet, dass die Steine ihm nicht aus der Tasche seines Schlafanzugs in den Traum folgen würden. Die Mädchen trugen glücklicherweise helle, dünne Kleider und leichte Sandalen. Niemand hatte allerdings etwas dabei, also keinen Rucksack, kein Notfall-Set, keinen Proviant. Und vor allem: kein Wasser.
Was ihre Ausrüstung anging, war das Buch dieses Mal nicht gerade gnädig.

Niemand beschwerte sich, als Sunitha vorschlug, in Richtung des großen Bergs zu gehen. Es gab nichts in dieser Öde, nur Felsen und Sand. Ein paar mickrige Büsche mit sehr dicken Ästen und fleischigen, aber harten Blättern. Ab und zu eine Eidechse, kleine Spinnen oder Ameisen. Mehr gab es in dieser Welt nicht. Nur dieser Berg ragte aus der leicht welligen Ebene heraus.

Wenn sie nicht bald etwas zu trinken fänden, würde das nicht gut ausgehen. Sie waren schon deutlich langsamer unterwegs als zu Beginn, und nachdem sie am Anfang noch freudig über Hannes’ neue Fähigkeit Witze gemacht und Sprints ausprobiert hatten, sprach inzwischen niemand mehr viel. Alle waren erschöpft und alle sehnten sich nach etwas zu trinken.

“Sind wir vielleicht auf der falschen Spur?”, fragte Simon matt in die Runde, als sie eine kurze Verschnaufpause an ein paar vertrockneten Grasbüscheln machten. Song kickte einen Stein zur Seite und ein Skorpion witschte zum nächsten größeren Stein, um dort Deckung zu suchen.

Sunitha blinzelte unsicher und sagte: “Vielleicht war der große Berg ja keine gute Idee. Ich wusste nicht, wie das so geht in euren Träumen.” Verschämt blickte sie zu Boden und setzte sich hin.
“Nein, nein, wir haben ja selbst keine bessere Idee...”, meinte Simon mit einem Schulterzucken, drehte sich von der Sonne weg, hielt die Hand über die Augen und schaute in die Ferne.

“He!”, entfuhr es ihm.
“Schaut mal auf die rechte Seite des Riesenbergs. Da, wo diese hellere Stelle ist. Ist da nicht was?”

Noushin hatte Adleraugen. Sagte Hannes jedenfalls immer. Sie reckte sich und spähte neben Simon in die Ferne.
“Hm... ich würde sagen, sieht aus wie eine Person neben einem riesigen Felsblock”, überlegte sie. Es kam Leben in die Gruppe.
“Eine Person?!? Hier in der Wüste? Was macht die da?”
“Das finden wir nur ‘raus, wenn wir dort sind”, sagte Song und gab Sunitha seine Hand, um ihr hoch zu helfen.


Völlig gebannt standen sie am Rand der Ebene und schauten hinüber. Wie aus dem Nichts hatte sich nach einer halben Stunde Fußmarsch eine sehr breite Felsspalte vor ihnen aufgetan, sicher um die hundert Meter breit. Erst sah sie nach einem schmalen Strich aus. Dann wurde dieser beim Näherkommen immer breiter. Je näher sie kamen, desto mehr war ihnen klar, dass da ein riesiger Riss in der Landschaft war. Auf der anderen Seite der Felsspalte setzte sich die Wüstenebene fort. Da stand in ziemlicher Entfernung tatsächlich eine Person neben einem großen Felsblock, so wie Noushin es gesehen hatte.

Seltsam. Es war ein Mann, eher klein, mit dunkelbraun gebrannter Haut. Er hatte lange, lockige, graue Haare und nichts an. Ja, er war tatsächlich splitterfasernackt! Im Gesicht und auf dem kugeligen Bauch hatte er farbige Muster. Er stand regungslos auf einem dünnen Bein, das andere hatte er angewinkelt. Man konnte es nicht sehen unter seinen tiefen Brauen, aber es schien, als hätte er die Augen geschlossen und würde die Kinder gar nicht wahrnehmen.

Am Rand der Felsspalte stehend, konnten sie sehen, dass tief unter ihnen Bäume standen, Büsche wuchsen und dem Geräusch nach gab es sogar irgendwo Wasser. Wasser, endlich Wasser! Ein Paradies zu ihren Füßen. Nur leider war die Felswand steil und schroff. Sie mussten irgendetwas finden, womit sie da hinunter kommen konnten. Der lustige Mann und die unerwartete Veränderung der Landschaft gaben ihnen neuen Mut. Sie teilten sich am Rand der Felsspalte auf und beschlossen, links und rechts nach Hinweisen zu suchen.

Nicht lange danach tönte ein Ruf von links. Es war Noushin, die etwas bemerkt hatte. Schnell liefen alle zusammen und Noushin zeigte auf alte, geflochtene Seile, die von kleineren Felsen ganz am Rand der Spalte über die Kante nach unten hingen. Sie sahen teilweise bröselig aus und weckten wenig Vertrauen.

Song zog daran, aber die Seile oder das, was daran hing, waren zu schwer und bewegten sich nicht. Hannes legte sich auf den Boden, robbte vorsichtig ganz an den Rand der Felsspalte und spähte hinunter. Sie war tief und sah gefährlich aus.
“Sieht aus, wie ‘ne Strickleiter. Es hat hier so Holzsprossen aus dickeren Ästen. Irgendwie voll selbstgebastelt...”
“Hält sie uns aus? Und wie weit reicht sie denn runter?”, fragte Sunitha zögerlich.
“Hm... ich seh kein Ende. Könnte bis ‘runter gehen. Weiter da drüben ist noch eine.”

Song lief zum nächsten Felsen und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Ein gefährlicher Versuch, aber sie hatten keine andere Wahl. Er hielt sich mit beiden Händen an den Seilen fest und kletterte vorsichtig über die Kante, die hier ein bisschen rundlicher und nicht so scharf war. Es ging auch nicht gleich so steil nach unten. Er Mit den Füßen tastete er vorsichtig nach den nächsten Sprossen. Als er die dritte Sprosse betrat, brach sie durch und fiel hinab. Er rutschte ein Stück am Seil entlang in den Abgrund. Mit letzter Kraft konnte er sich festhalten. Hannes zog ihn mit seinen starken Armen wieder hoch. Song war bleich und keuchte.

“Puuh, das war knapp”, rief Sunitha.
“Wir probieren die andere”, rief Noushin und Hannes. Sie griffen nach den alten Seilen. Hannes legte sich bäuchlings an die Kante und sicherte Noushin, die sehr langsam die Sprossen testete. Auch hier brach eine Sprosse, direkt nach den ersten Schritten.

“Au Kacke!”, maulte Simon leicht fahl im Gesicht.
“So kommen wir nicht runter.”

Sie setzten sich entmutigt auf den Boden und merkten plötzlich, dass sie alle am Ende ihrer Kräfte waren.
“Wann wachen wir wieder auf?”, fragte Sunitha matt und Simon antwortete “Nie vor Sonnenuntergang. Luisa und ich haben einige Welten besucht und bei den ersten beiden Steinen mussten wir immer einen langen Tag im Traum verbringen. Es war aber nie so heiß wie hier.”

Noushin blickte matt über die weite Felsspalte und zu dem Felsblock neben dem alten Mann. Er hatte sich kein bisschen bewegt. Seine Beine sahen aus, wie die eines Flamingos. Dünn, staksig, eins angewinkelt. Wie kann man nur so lange auf einem Bein stehen...

Da fiel ihr etwas ein.
“Stab!”, rief sie.
“Eines der Wörter auf Farsi heißt ‘Stab’ oder ‘Stock’ .”

Hannes fuhr herum.
“Könnte das was mit den Sprossen zu tun haben?”, fragte er Noushin.
“Irgendwie brauchen wir noch andere Hinweise, wie wir weiterkommen.” Er zeichnete zum Erstaunen der Anderen eine Menge Zeichen aus seinem Gedächtnis in den spärlichen Sandboden.
“Ich hab die Notizen nicht dabei, aber die Zeichen von Noushin kann ich auswendig”, grinste er die Gruppe an.

“Das hier heißt ‘gleichzeitig’ auf Sanskrit”, sagte Sunitha und zeigte auf eines der noch nicht übersetzten Zeichen aus Noushins Traum.
“Und das hier ‘Tritt’ .” Sunitha zeigte auf eines der anderen.
“Das Rätsel scheint durcheinander zu sein.”
“Tritt, gleichzeitig, Stab...”, murmelte Simon vor sich hin.
“Hier steht ‘Tal’ ”, sagte Sunitha plötzlich aufgeregt.
“Tal, Tritt, gleichzeitig, Stab”, wiederholte Simon.

Mit dieser neuen Erkenntnis wagten sie einen weiteren Versuch. Diesmal sicherte Hannes die leichtere Noushin, Song und Simon hielten Sunitha. Beide ließen sich über die Kante gleiten. Beide suchten die erste Sprosse ihrer Leiter.
“Auf drei”, sagte Hannes. Beide traten jetzt gleichzeitig bei drei auf ihre Sprosse. Zweite Sprosse.
“Auf drei”, sagte Simon. Dritte Sprosse.
“1, 2, 3”, sagte Noushin und die Sprosse hielt auch.

Nun waren die Arme zu kurz. Song, Hannes und Simon würden die Mädchen nicht mehr halten können. Sie mussten sich selbst halten und darauf vertrauen, dass das der richtige Hinweis gewesen war. Sunitha und Noushin sahen sich lange an und dann nickte Noushin wild entschlossen: “Auf drei!”

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