Kapitel 26 - In dem ein Buch, ein Ring und ein Kuss verschenkt werden

Song und Noushin standen auf dem Pausenhof und unterhielten sich aufgeregt, aber sehr leise. Sie waren darauf bedacht, dass niemand den Inhalt ihres Gesprächs mitbekam. Als Luisa langsam und gedankenverloren mit dem Schulrucksack auf die große Eingangstüre zu ging, stürmten sie vom Pausenhof gleich auf Luisa zu.

“Wie geht es Hannes?”, rief Noushin außer Atem.
“Wie kommt es, dass du hierher kommst? Wer schaut nach ihm, wenn du hier bist, Luisa?”, fragte Song.
Sunitha kam vom Fahrrad-Abstellplatz und war mit schnellen Schritte ebenfalls bei ihnen.
“Gibt’s Neuigkeiten?”

Lusia erzählte von Kiran und davon, dass er sie zur Schule geschickt hatte.
“Ein Border Collie? Ach wie süß! So einen hätte ich auch gerne”, entfuhr es Sunitha.
“Aber wie lang soll das so gehen? Hannes kann doch nicht ewig schlafen”, warf Song ein.

Sie schlenderten langsam zum Eingang zurück und debattierten die neue Situation. Sogar Simon war am Schluss mit dabei. Während fast alle anderen Schülerinnen und Schüler schon wieder ins Schulhaus strömten, hielt Noushin die Gruppe zurück. “Ich will Hannes auf jeden Fall zurück haben!” Ihre Augen funkelten.
“Das wollen wir alle!”, rief Luisa.
“Dann müssen wir auch alles dafür tun. Du zum Beispiel. Oder Sunitha.” Die Anderen schauten sie verdutzt an.
“Was meinst du damit?”

“Hannes braucht etwas, das es ihm leichter macht, in diese Welt hier zurück zu kommen. Er wird auf seine Beine verzichten müssen, das ist eine furchtbare Sache. Also verzichten wir auch auf etwas.”
“Was soll das sein, Noushin? Ich check’s nich’”, meinte Song.

“Hannes hat keine Verbindung zum Buch. Wenn wir es ihm schenken, so dass er selbst entscheiden kann, wann er hier und wann er dort sein möchte, würde es ihm leichter fallen, zurück zu kommen.” Sie sah Luisa an. Luisa wurde blass.

Sunitha sah auf ihre Hand.
“Und der Ring... er hat mir die Macht verliehen, euch alle zu befreien. Was wird Hannes erst damit tun können?” Sie umfasste ihre Hand mit der anderen, wie wenn sie den Ring schützen wollte. Alle standen still, niemand sagte etwas. Von drinnen erklang die Schulklingel, wie wenn sie die Freunde wieder an die echte Welt erinnern wollte.

...

Am frühen Abend schlich sich ein kleines Grüppchen uns wohl bekannter Sechstklässlerinnen am Gartenzaun zu Saskias Haus vorbei und tapste die Treppe zum Kellereingang hinunter. Simon schloss auf, alle huschten eine nach dem andern hinein.

Sie sahen gerade noch das Hinterteil und den Schwanz eines Border Collie, der zwischen Songs Beinen nach draußen huschte, bevor Simon die Tür zuzog. Hannes lag ein wenig anders da, als sie ihn verlassen hatten. Er schlief aber immer noch ruhig und entspannt.

Luisa zog das Buch aus ihrem Rucksack, nahm es in beide Hände, streichelte über den Einband und den Buchrücken und sah dann auf Hannes.
Feierlich sagte sie: “Hiermit schenke ich, Luisa, Finderin und Hüterin des Buches meinen Schatz dir, Hannes. Du sollst jetzt der Hüter des Buches sein und selbst entscheiden können, was du damit tust. Du sollst fortan zu jeder Zeit in das Buch gehen können.”

Sie legte das Buch direkt neben die Hand von Hannes und dann legte sie langsam und sehr vorsichtig seine Hand mitten auf den Einband.

Sunitha nahm den Ring aus den Steinen der Weisheit von ihrem Finger, griff nach der anderen Hand von Hannes und steckte ihm den Ring an.
“Der Ring der Macht soll dir gehören, Hannes. Mir hat er das Glück gebracht, meine Freunde befreien zu können. Ich wünsche dir, dass er dir auch Glück bringt und du ihn weise einsetzen wirst.”

Dann zog Song zur Überraschung aller eine dunkle Karte mit einem großen goldenen Zeichen aus seiner Umhängetasche, hob sie hoch und sprach ebenso feierlich: “Ich schenke dir diese Karte, mein Freund. Du kennst nicht das Zeichen, aber du kennst seinen Ursprung. Es ist vietnamesisch und bedeutet ‘Respekt’ . Denk immer an...” Er brach ab, räusperte sich und legte die Karte neben die Hand mit dem Ring.

Noushin kniete sich neben den Schlafsack nahe bei Hannes’ Kopf. Sie beugte sich tief über ihn und flüsterte in sein Ohr: “Komm zurück. Bitte, komm zurück. Du hast mir immer Mut gemacht. Ich möchte dir auch Mut machen. Immer.” Bevor sie sich wieder aufrichtete, fiel eine kleine Träne auf die Backe von Hannes. Niemand hatte sie in dem Schummerlicht im Keller gesehen. Und es fiel auch nicht weiter auf, dass sie einen winzigen Kuss auf diese Backe hauchte, bevor sie aufstand und sich zu den anderen setzte.

“Und was jetzt?”, fragte Simon unsicher.

...

Am nächsten Morgen war wieder Kunstunterricht. Beide sechsten Klassen versammelten sich dazu im großen Saal, und nachdem die Lehrerin einige andere Kunstwerke gezeigt und erklärt hatte, stellte sie die neue Aufgabe vor. Danach wuselten alle durcheinander, um sich die Materialien aus den alten Schränken im hinteren Teil des Saales zu organisieren.

Die fünf Kinder steckten die Köpfe zusammen, jedes wollte wissen, ob irgendetwas vorgefallen war, seit sie Hannes am Vorabend im Keller verlassen hatten. Sie hatten ihm zu essen und zu trinken hingestellt und die Heizung angelassen. Mehr war ihnen nicht eingefallen, denn sie konnten ja leider nicht bleiben.

Als die Lehrerin an ihnen vorbei ging und streng in Richtung Türe schaute, hörten sie: “Johannes von Weissenfels, wie oft muss ich dir noch sagen, dass man auch im Kunstunterricht pünktlich zu erscheinen hat! Und da entschuldigt dich auch dein Rollstuhl nicht!”

Fünf Köpfe flogen herum und sahen Hannes im Rolli in die Klasse fahren. Mit verschmitztem Grinsen von Ohr zu Ohr breitete er seine Arme aus und sah sie an. Auf seiner Schulter saß ein Spatz mit goldbraunen Augen. Der breitete seine Flügel aus und flog quer durch den Saal durch die offene Hintertür.

“Hannes!”, riefen fünf offene Münder.


Danksagung
Anfang November als Adventskalendergeschichte gestartet, hat sich diese Geschichte zu einer sehr umfangreichen Arbeit entwickelt. Ich danke meiner Mitautorin Tania und allen Leserinnen und Lesern, die mir ihre Zeit geliehen haben und dieses Projekt zu einem wunderbaren kreativen Abenteuer gemacht haben.

Wenn ihr weiteres von diesem Projekt hören wollt, dann schreibt uns doch eine E-Mail an mail ät skribi punkt io.
Vielen Dank, viel Spass und ein frohes neues Jahr.

Hier kannst du dir den Text vorlesen lassen

Dieses Kapitel wurde von Magnus geschrieben und am Donnerstag, 29. Dezember 2022, 01:33 Uhr veröffentlicht. Es enthält 1025 Worte.

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